"Darf Architektur unflexibel sein?"
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Nein! 50%
Als Le Corbusier den freien Grundriss als einen seiner „Fünf Punkte einer neuen Architektur“ postulierte, war der Begriff ein Synonym für die Befreiung von Konventionen und überkommenen Wohnvorstellungen. Ein freies Stützenraster statt fixer tragender Wände versprach eine Architektur, die sich ständig auf wechselnde Bedürfnisse anpassen ließ und offen für die Zukunft war.
Heute hat dieser Begriff viel von seiner einstigen Emphase verloren. Die Zukunft kam, wie so oft, anders als gedacht. Statt dem neuem Menschen sind wir mit einer Überzahl von Alten konfrontiert, die den wenigen neuen Menschen (unseren Kindern) bald schwer auf der Tasche liegen werden. Die klassische Familie ist immer weniger die Norm des zwischenmenschlichen Zusammenlebens, genauso wie feste Arbeitsverhältnisse heute immer mehr die Ausnahme von der neoliberalen Regel repräsentieren. Je unzuverlässiger die Wirklichkeit wird, umso mehr wächst der Druck auf die Architektur, architektonische Passepartouts für alle Eventualitäten zur Verfügung zu stellen. Ganz klammheimlich hat sich unterdessen der freie zum flexiblen Grundriss gewandelt, den Projektentwickler gern als „Asset-Faktor“ ihrer Immobilienportfolios preisen – ein entwaffnender Euphemismus für eine Architektur, die prophylaktisch so eigenschaftslos ist, dass sie auch schon während des Entwurfs umgenutzt werden kann, wenn schwankende Kapitalrenditequoten der geplanten Funktionen eine Umprogrammierung des Gebäudes für sinnvoll erscheinen lassen.
Aber natürlich sollen Gebäude auch nach ihrer Fertigstellung flexibel bleiben – sowohl im architektonischen wie im städtebaulichen Maßstab. Barrierefreie Baugruppen und Mehrgenerationenhäuser mit addierbaren Schotten oder beliebig miteinander zu verbindenden Räumen sollen das Gebaute an neue Lebensverhältnisse, hinzuziehende Eltern oder Pflegepersonal anpassen. Das Schlagwort „Nachhaltigkeit“ tut hier sein übriges, denn Flexibilität gilt als lebensverlängernde Frischzellenkur der gebauten Umwelt. Aber kann es den eierlegenden Wollmilchbau überhaupt geben? Und zu welchem Preis? Wie häufig ein flexibles Gebäude innerhalb seines Bestehens tatsächlich verändert wird, zeigen Wohnbauexperimente der 70er Jahre – nämlich kaum. Der Aufwand ist entweder zu groß oder der Bedarf nach Veränderung zu gering. Letzten Endes geht die gutgemeinte Antizipationsarchitektur zu Lasten der räumlichen Qualität und der Bedürfniserfüllung im Hier und Jetzt.
Dabei gäbe es doch Alternativen für das Abfedern des Unplanbaren. Eine wäre die charmante Übergröße, die Mies van der Rohe einst seinem Büronachbarn Hugo Häring mit Blick auf seine organisch-funktionalistischen Grundrisse ans Herz legte: „Menschenskind, mach doch die Bude groß genug, dann kannst du hin- und herlaufen und nicht nur in einer vorgezeichneten Bewegung.“ (Nachzuhören hier) Eine andere Alternative bestände darin, ein differenziertes Angebot unterschiedlichster Wohnungstypen innerhalb eines Gebäudes anzubieten, wie zum Beispiel beim der Wohn- und Geschäftsüberbauung „James“ in Zürich von Gmür & Geschwentner Architekten. Und last but not least gibt es noch das Prinzip Umbau: Man ändert ein Haus dann, wenn der Bedarf sich wandelt. Stewart Brand hat das in seinem Buch „How buildings learn“ und der gleichnamigen BBC-Fernsehserie gut dargelegt. Die Frage muss also erlaubt sein: Darf Architektur unflexibel sein?
Ja ...
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Nein ...
Ja ...
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... denn zumindest entgeht sie nicht dem Wandel, niemals dem Wandel ihrer Umwelt. Ob Konservierung, Umnutzung oder Rückbau, um drei mögliche Kategorien zu nennen, wie so oft kommt es auf die Differenzierung an zwischen dem was Architektur als sich entwickelnde gebaute Umwelt können kann oder was über die Zeit schlichtweg an Veränderung eintritt. Besonders wenn nachhaltiges Bauen das Ziel ist.
Mit Blick auf den Wohnungsbau sind es sicherlich nicht die flexiblen Strukturen aus „Träger und Einfüllungen“ geworden, die beispielsweise nach John Habraken, verkürzt gesagt, die Problematik von Veränderlichkeit und Individualität der Architektur ein für alle mal auflösen sollten. Und generell ist die Kritik berechtigt, dass die meisten Wohnbauexperimente, die mit elementierten Bauteilen veränderliche Strukturen angeboten haben, nicht oft in die Verlegenheit kamen, diese Möglichkeiten auch beweisen zu müssen.
Aber was war damit eigentlich gemeint, mit einem strukturalistischen Ansatz à la Habraken oder von Anderen dieser Zeit? Mit dem Wunsch, eine „natürliche Relation“ in den Wohnungsbau zurückzubringen, mit der Idee von flexibleren Einheiten im Gegensatz zu einer Uniformität im Massenwohnungsbau? Im Kern war die Idee, mehr Freiheit für die Belange der Menschen, mehr Gesellschaft und Mitbestimmung in das Bauliche zu integrieren: das heißt vorausschauend zu sein und damit nachhaltig in Bezug auf zukünftige Herausforderungen. Die Lösung in der rein architektonisch-technologischen Machbarkeit zu suchen war natürlich einseitig.
Aus der heutigen Sicht ergibt sich aber eine interessante Frage: Was wäre gewesen, wenn zu dem sozio-kulturellen damals schon vordringlich der ökologische Aspekt hinzugekommen wäre? Die Frage nach Ressourcenschutz und Energieverbrauch, die zwangsläufig bei Erhaltung, Umbau oder Abriss eines Gebäudes im Raum steht? Diese wäre ein absolutes Pro-Argument für reversible Einfüllungen und stabile Strukturen – nicht baulich, sondern infrastrukturell verstanden – die diesen materiellen Kreislauf ermöglichen. Und damit sind es zwei Ansätze von Flexibilität, die es heute gilt, an ein Gebäude anzulegen: zum einen die Flexibilität, die es als Nutzungsgegenstand aufweist, und zum anderen die Flexibilität, die es besitzt, wenn es um das Verfallsdatum als Ganzes oder das seiner Bestandteile geht. Dies meint den Aufwand seiner Transformation, die Rezyklierbarkeit seiner Teile.
Ausschlaggebend ist stets, von welchen Zeiträumen der Veränderung die Rede ist: von 40, 50 oder 60 Jahren als Intervalle des Wandels, von Lebenszyklen eines Gebäudes, die zeitlich auch den sich wandelnden Strukturen der Gesellschaft entsprechen. Sicherlich stehen hier nicht die Veränderungen in der Kurzfristigkeit im Vordergrund, wobei der Austausch von Verschleißteilen oder übliche Nachrüstungen grundsätzlich auch von der Flexibilität der Bausubstanz profitieren. Von größerer Relevanz sind die mittelfristigen Notwendigkeiten der Transformation, veranlasst durch Bestandserhaltung und Sanierung, Anpassung an neue Standards, sei es bei der Wärmedämmung oder anderer sich verändernder Bedingungen, bis hin zu den langfristigen Wandlungserscheinungen als Auslöser baulicher oder städtebaulicher Transformation – wie Strukturwandel, Generationswechsel, soziale Migration und Veränderungen der Prioritäten bei der Wohnraumwahl – und die Möglichkeit der Alt-Substanz diesen zu entsprechen.
Die Entwicklung von der Mietkaserne im Arbeiterquartier zum Freiraum für junge zahlungsunkräftige Stadtbewohner bis zu den zahlungskräftigeren „Yuppies“ und schließlich dem Klientel heutiger Wohnraumverwertung unter den Stichwörtern Luxussanierung und Gentrifizierung ist dabei exemplarisch. Das alles geschieht schließlich mit ein und dem selben Gründerzeit-Altbau. Erstaunlich wandlungsfähig scheint diese Art von Architektur, wobei sie doch das Gegenteil war zu den wandelbaren Utopien der Moderne.
Was für eine Architektur lässt sich damit fordern? Ist es eine Architektur, die für sich ruhig fest und dauerhaft sein kann, wenn sie denn als bauliche Substanz genug hergibt, um ein Material der Veränderlichkeit zu sein? Dies kommt dem „Gebäude konglomerater Ordnung“ der Smithsons in ihren „Italienischen Gedanken“ nahe: ein Gebäude, das „spontane Anbauten, Abriß und technische Modifikationen ertragen“ kann, „ohne daß seine Ordnung gestört würde“, denn „solche Veränderungen verbessern es sogar“. Passend dazu sind im mittelfristigen Zeithorizont die individuellen Erweiterungen durch Bewohner, wie diese beispielsweise von Asien bis in den nahen Osten am modernen Wohnungsbau der 60er Jahre bis zu den heutigen Wohnbauten individuelle Ergänzungen, kleine Anbauten, häufig an Balkonen, Nischen, Erkern hervorbringen. Nicht selten begünstigen dies die Formen der Bauten, die dem Wunsch entsprachen, das Problem der Monotonie, der „Ästhetik der Anzahl“ (Aldo van Eyck) zu lösen. Wie könnte ein Gebäude heutigen Wunsch-Standards, inklusive Luftdichtheit und Vollwärmeschutz, das ertragen? Freie Grundrisse hin oder her. Zumal diese in der Realität weniger den Wohnungsbau betreffen und mehr den Umbau von Büroetagen mittels Leichtbauwänden, wobei dies vielerorts zu schmal geschlitzten Lochfassaden führt, die das Raster vor- und in der architektonischen Formensprache nach Außen wenig von Vielfalt wiedergeben.
Oder ist damit primär eine Architektur gefordert, mit der sich auf Grund ihrer Konzeption und Konstruktion der spätere Wandel oder Abbruch auf die lange Sicht hin energieärmer und ressourcenschonender gestalten lässt; in der Wiederverwendung und Recycling von Baustoffen an erster Stelle stehen? Wobei dies natürlich Grenzen hat. Im Bauen ist es doch vordringlich das jeweils einzigartige Projekt, auch wenn sich vieles de facto sehr ähnelt, das den Ton angibt. Eine Ausnahme stellen vielleicht die Plattenbauten der ehemaligen DDR dar, die mit ihrer systematischen Normung – ohne die ursprüngliche Intention zum Recycling-Design und mit niedriger Flexibilität für ihre Nutzer – dazu einladen, das flexible Material eines großen Bausatzes zu sein. Und auch die vorgefertigten Bauprodukte heutiger Hightech-Produktion sind noch lange nicht kompatibel zu einem Gebrauchtteilemarkt analog der Automobilindustrie, auch wenn es Ideen gibt, die in eine solche Richtung wirken.
Und damit wieder zum Anfang, zurück zu den großen Strukturen und den Einfüllungen. Der Faktor Flexibilität existiert nicht nur innerhalb des einzelnen Gebäudes, sondern auch in einer Bauweise, die mit der Gesamtstruktur des Bauens harmoniert, in dem vorausschauendes Design auf die Möglichkeiten moderner Kreislaufwirtschaft trifft. Mit beidem kann die Flexibilität von Gebäuden auch zum Garant von Nachhaltigkeit werden.
Robert K. Huber, geb. 1980, schloss 2008 sein Architekturstudium in München ab und absolvierte ein Aufbaustudium zum M. Arch. und M.Sc. Urban Design in Berlin und Shanghai. Neben seiner Tätigkeit als freier Journalist u.a. für DETAIL sowie Lehrtätigkeiten an der Hochschule München und UdK Berlin leitet er gemeinsam mit Annekatrin Fischer zukunftsgeraeusche GbR (zkg), ein Projektbüro und eine interdisziplinäre Plattform zur Entwicklung nachhaltiger Denk- und Handlungsweisen mit Projekten im Bereich Architektur, Bautechnik, Urbanistik, Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) und Baukultur. Er beschäftigt sich mit der Wiederverwendung von Bauteilen u.a. in den Projekten Plattenvereinigung und seit 2012 Bauhaus-reuse.
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