"Gehören Großwohnsiedlungen zur europäischen Stadt?"
Ja! 58%
Nein! 42%
Großsiedlungen haben weder in der Außenwahrnehmung noch im Fachdiskurs einen guten Ruf. Das erstaunt, denn an ihrem Bau in der Nachkriegszeit haben sich weltweit bekannte und renommierte Architekten beteiligt – Walter Gropius genauso wie Ernst May, O.M. Ungers, Candilis Woods, Peter und Alison Smithson, ...
Für viele aber sind Großsiedlungen ein Synonym für das Scheitern des modernen Städtebaus, gar einer ganzen sozialpolitischen Grundhaltung. Als anonyme Problemviertel an der Peripherie, die aufgrund ihrer Maßstäblichkeit Planer vor schier unlösbare Aufgaben stellen, werden sie oft und mit Berechtigung als Sorgenkinder der Stadtentwicklung gesehen. Sie gelten als das Gegenteil der europäischen Stadt, dem seit Jahrzehnten vorherrschenden Leitbild im Städtebaudiskurs.
Dabei stellen sie beträchtliche Reserven auf dem Wohnungsmarkt dar und sind Heimat für viele Menschen, die gerne darin leben. Manche ziehen sogar wieder in ihre Siedlungen zurück – auch wenn dies von außen selten zur Kenntnis genommen wird. Für ihre Bewohner scheinen Großsiedlungen also durchaus Qualitäten und Potenziale zu bieten.
Natürlich wird keiner wieder so wie damals bauen wollen und sicher muss differenziert werden zwischen unterschiedlichen Modellen und Entstehungsbedingungen der Siedlungen. Das heißt aber nicht, dass diese Siedlungen keinen baukulturellen Wert haben.
Sie gehören zur Geschichte unserer Städte. Sind sie als Ausdruck sozialpolitischer Ideale der Nachkriegsgeneration nicht Teil unserer kulturellen Identität, eine Form des emanzipatorischen Versprechens, das die Basis für eine funktionierende Demokratie legte? Diese ließen sich durch Abriss genauso wenig löschen wie zum Beispiel die DDR-Vergangenheit dadurch verschwunden ist, dass der Palast der Republik abgerissen wurde.
Vielleicht haben Großsiedlungen nur noch nicht das Alter erreicht, das üblicherweise nötig ist, bis Vergangenes ins Interesse einer Generation tritt, die mit zeitlichem Abstand einen neuen Blick darauf wirft. So wurde auch erst in den 1970er Jahren erkannt, welch hohen Wert die gründerzeitliche Wohnbebauung für die Innenstädte hat.
Aber was würde es für den Umgang mit diesem Teil unserer Stadtbaugeschichte bedeuten, wenn man ihn als Teil unserer kulturellen Identität anerkennt? Wenn man Großwohnsiedlungen nicht mehr als a priori defizitär, sondern als Stadtteile mit eigener Qualität ansieht? Macht man es sich nicht vor allem einfach, wenn dieser Wert nicht zu hoch angesetzt wird, weil dann so manch schwierige Diskussion mit Abriss abgekürzt werden kann? Hinter solchen Fragen steht die grundsätzliche über das Stadtverständnis, mit dem wir diesem Erbe begegnen wollen: Gehören Großwohnsiedlungen zur europäischen Stadt?
Gastredakteure dieser Debatte sind Maren Harnack (FH Frankfurt) und Christian Holl (frei04 publizistik, Stuttgart).
Jein ...
Ja ...
Ja ...
Ja ...
Ja ...
Nein ...
Ja ...
Ja ...
Ja ...
Ja ...
Nein ...
Nein ...
Jein ...
Ja ...
Ja ...
Ja ...
Ja ...
Ja ...
Ja ...
Ja ...
Großsiedlungen waren Stadtbausteine, als solche geplant, sie sind es und sie können es auch weiterhin sein. Zwei Begriffe, die im Zusammenhang mit der IBA `87 in Berlin entstanden sind – nämlich „Behutsame Erneuerung“ und „kritische Rekonstruktion“ –, könnten auch als methodischer Zutritt hilfreich sein, wenn es um die Auseinandersetzung mit Großsiedlungen geht. Diese beiden Begriffe sind ja nicht an die Gründerzeitstadt oder an eine bestimmte Stadtform gebunden.
Man kennt das Bild mit der Hand Le Corbusiers auf einem seiner Pläne und das von Walter Siebel damit prägnant formulierte Gott-Vater-Modell der Planung. Dieser Gedanke liegt diesen Großsiedlungen zugrunde: Das neue Bauen führe zur neuen Stadt und implizit auch zum neuen Menschen. Das ist gewissermaßen die disziplinäre Selbstüberschätzung, mit der wir auch heute noch zu kämpfen haben. Diese disziplinäre Selbstüberschätzung ist nicht gebunden an eine städtebauliche Form, sondern wir finden sie auch dann, wenn uns als Stadt der Zukunft städtebauliche Formen des 19. Jahrhunderts angeboten und auch mit einem entsprechend gesellschaftlichen Heilungsversprechen begründet werden. Das Dumme ist, dass diese disziplinäre Selbstüberschätzung immer wieder auch durch die Politik gefordert wird, wenn suggeriert wird, dass gesellschaftliche Veränderungen durch einfache, in Wahlperioden überschaubare Interventionen scheinbar realisierbar sind. Man will gesellschaftliche Probleme durch Bauen lösen und packt die eigentlichen Probleme nicht an.
Großsiedlungen waren nie Ghettos im Sinne einer soziologischen Definition. Großsiedlungen sind, davon bin ich fest überzeugt, immer auch Heimat, sind es gewesen und sind es jetzt noch. Diese Identifikation der Bewohnerschaft wird in der Regel verkannt. Viele reden über die Siedlungen und waren noch nie dort. Wir müssen uns aber in diese Siedlungen hineinbegeben, dort vielleicht auch wohnen und mit den Menschen vor Ort in Kontakt treten, um dies zu verstehen.
Die „behutsame Erneuerung“ und „kritische Rekonstruktion“ wären meines Erachtens ein richtiger, angemessener, intellektueller Zutritt, Großsiedlungen als Stadtbausteine weiterzuqualifizieren. Großsiedlungen sind bauliche, aber auch soziale Ressourcen. Sie sind Teil der städtischen Identität. Sie sind unfertig, gar kein Zweifel, sie sind auch un-zeitgemäß und müssen um- und weitergebaut werden.
Um es etwas schwülstig zu sagen: Entwicklungsstrategien für Großsiedlungen sind Experimente zivilgesellschaftliche Stadtproduktion und performative wie urbanistische Maßarbeit. Und ich glaube, wir müssen sie als solche begreifen. Trotz ihrer enormen Größe meine ich, dass man sich mit sehr viel Liebe fürs Detail und Empathie an diese Großsiedlungen heranbewegen und klein anfangen muss.
Michael Koch ist seit 2004 Professor für Städtebau und Quartierplanung im Studiengang Stadtplanung an der TU Hamburg-Harburg, der 2006 an die neu gegründete HafenCity Universität Hamburg transferiert wurde. Zur Zeit ist er Dekan des Bachelor-Studiengangs Stadtplanung der HCU und Sprecher der HCU-Forschungsgruppe Urbane Metamorphosen. Michael Koch ist Mitinhaber des Büros yellow z urbanism architecture Berlin/ Zürich.
3
0
0
kommentieren [ edit ]