"Gehören Großwohnsiedlungen zur europäischen Stadt?"

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Großsiedlungen haben weder in der Außenwahrnehmung noch im Fachdiskurs einen guten Ruf. Das erstaunt, denn an ihrem Bau in der Nachkriegszeit haben sich weltweit bekannte und renommierte Architekten beteiligt – Walter Gropius genauso wie Ernst May, O.M. Ungers, Candilis Woods, Peter und Alison Smithson, ...

Für viele aber sind Großsiedlungen ein Synonym für das Scheitern des modernen Städtebaus, gar einer ganzen sozialpolitischen Grundhaltung. Als anonyme Problemviertel an der Peripherie, die aufgrund ihrer Maßstäblichkeit Planer vor schier unlösbare Aufgaben stellen, werden sie oft und mit Berechtigung als Sorgenkinder der Stadtentwicklung gesehen. Sie gelten als das Gegenteil der europäischen Stadt, dem seit Jahrzehnten vorherrschenden Leitbild im Städtebaudiskurs.

Dabei stellen sie beträchtliche Reserven auf dem Wohnungsmarkt dar und sind Heimat für viele Menschen, die gerne darin leben. Manche ziehen sogar wieder in ihre Siedlungen zurück – auch wenn dies von außen selten zur Kenntnis genommen wird. Für ihre Bewohner scheinen Großsiedlungen also durchaus Qualitäten und Potenziale zu bieten.

Natürlich wird keiner wieder so wie damals bauen wollen und sicher muss differenziert werden zwischen unterschiedlichen Modellen und Entstehungsbedingungen der Siedlungen. Das heißt aber nicht, dass diese Siedlungen keinen baukulturellen Wert haben.

Sie gehören zur Geschichte unserer Städte. Sind sie als Ausdruck sozialpolitischer Ideale der Nachkriegsgeneration nicht Teil unserer kulturellen Identität, eine Form des emanzipatorischen Versprechens, das die Basis für eine funktionierende Demokratie legte? Diese ließen sich durch Abriss genauso wenig löschen wie zum Beispiel die DDR-Vergangenheit dadurch verschwunden ist, dass der Palast der Republik abgerissen wurde.

Vielleicht haben Großsiedlungen nur noch nicht das Alter erreicht, das üblicherweise nötig ist, bis Vergangenes ins Interesse einer Generation tritt, die mit zeitlichem Abstand einen neuen Blick darauf wirft. So wurde auch erst in den 1970er Jahren erkannt, welch hohen Wert die gründerzeitliche Wohnbebauung für die Innenstädte hat.

Aber was würde es für den Umgang mit diesem Teil unserer Stadtbaugeschichte bedeuten, wenn man ihn als Teil unserer kulturellen Identität anerkennt? Wenn man Großwohnsiedlungen nicht mehr als a priori defizitär, sondern als Stadtteile mit eigener Qualität ansieht? Macht man es sich nicht vor allem einfach, wenn dieser Wert nicht zu hoch angesetzt wird, weil dann so manch schwierige Diskussion mit Abriss abgekürzt werden kann? Hinter solchen Fragen steht die grundsätzliche über das Stadtverständnis, mit dem wir diesem Erbe begegnen wollen: Gehören Großwohnsiedlungen zur europäischen Stadt?

 

Gastredakteure dieser Debatte sind Maren Harnack (FH Frankfurt) und Christian Holl (frei04 publizistik, Stuttgart).

 

Maren Harnack und Christian Holl / 14.7.2013 / 14:12

Resümee der Gastredakteure dieser Debatte

Jein ...

Unsere Gastredaktion bei bkult geht zu Ende. Das Bild der unbegründeten Abstimmung (59 Prozent pro) ist dabei nicht ganz so deutlich, wie das der begründeten Statements. Dass mit einer einfachen Ja/Nein-Abstimmung noch wenig darüber ausgesagt ist, wie das Potenzial der Großwohnsiedlungen in der Stadt eingeschätzt wird, verdeutlichen die einzelnen Ausführungen: Sie zeigen, dass mit der Frage nach der europäischen Stadt etwas zur Sprache gebracht wurde, worüber nur scheinbar Konsens besteht. Denn es haben sich letztlich alle Beteiligten für eine sorgfältige, vorurteilsfreie Weiterentwicklung der Großsiedlungen ausgesprochen, auch solche, die noch vor kurzer Zeit einzelne Siedlungen abreißen wollten. Bemerkenswert finden wir, dass auch diejenigen, die gut begründet mit „Nein“ gestimmt haben, dies nicht taten, weil sie Großsiedlungen grundsätzlich ablehnen, sondern weil sie der Meinung sind, dass das oft genug rein formal verstandene Leitbild der europäischen Stadt für den Umgang mit Großsiedlungen nicht hilfreich ist. Die Strategien, mit denen Großsiedlungen weiterentwickelt werden, sollten sich nach Ansicht der Nein-Stimmen nicht an einem Stadtbild orientieren, das mit Großsiedlungen wenig gemein hat.Für uns zeigt sich an diesem Ergebnis vor allem eines: Das Leitbild der Europäischen Stadt, das in den vergangenen Jahren die Stadtentwicklung beherrscht hat, ist nur bedingt  geeignet, die aktuellen Probleme in unseren Städte zu lösen, jedenfalls solange es ausschließlich räumlich-formal verstanden wird. In einem so verstandenen Leitbild wird die  europäische Stadt inhaltlich so stark reduziert, dass sie ihr Orientierungspotenzial als zivilisatorisches und kulturelles Projekt jenseits des Formalen zu verlieren droht. In der Diskussion wurde darauf verwiesen, dass mit dieser Reduktion die Gefahr einher geht, zu glauben, mit der Form bereits das eingelöst zu haben, was mehr als dieser bedarf – das nährt offensichtlich auch die ebenfalls geäußerte Befürchtung, dass sich unter dem Deckmantel der europäischen Stadt die Fehler der Vergangenheit wiederholen könnten.Dennoch bleibt die Frage nach der Form, in der kulturelle und soziale Werte die Möglichkeiten bekommen, sich zu entfalten. Wir haben uns deswegen sehr bemüht, dezidierte Kritiker des modernen Städtebaus für Statements zu gewinnen, aber sie konnten oder wollten sich – sehr zu unserem Bedauern – nicht an der Debatte beteiligen.So bleibt als Fazit, dass die unterschiedlichen Erklärungen der Diskutanten dazu, was sie unter der europäischen Stadt verstehen, auch ein Hinweis darauf sind, dass dieses Leitbild zu missverständlich ist, um als Konsensrahmen für die gesamte Stadt Orientierung zu bieten. Das könnte bedeuten, dass man in Diskussionen über die Zukunft der Städte mit einem Leitbild operieren sollte, das Großsiedlungen selbstverständlich mit einschließt. Dies ist eine weitere Diskussion wert: Kann es gelingen, für zukünftiges Handeln in der Stadt ein Leitbild zu finden, das nicht bestehende Teile von ihr ausschließt? Maren Harnack und Christian Holl
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Thomas Knerer und Eva Maria Lang / 11.7.2013 / 14:41

Architekten, Dresden

Ja ...

Sicher ist die Kritik an manchen vermeintlich lieb- und strukturlos Mega-Wohnsilos der 70 Jahre nachvollziehbar. Bei der Beurteilung dieser Siedlungen muss jedoch bedacht werden, dass diese Quartiere aus einer ganz bestimmten sozialen Idee heraus entstanden sind. Über den städtebaulichen und architektonischen Wert kann man voraussichtlich erst aus einer größeren zeitlichen Distanz heraus sicher urteilen,vor dem Hintergrund der real existierenden Wohnungsnot in manchen Ballungsräumen jedoch kann man die Frage, ob Großwohnsiedlungen zur europäischen Stadt gehören, erst einmal nur mit "Ja" beantworten! Wir sind der Meinung, dass ein Abriss erst dann eine Alternative sein kann, wenn die wirtschaftlichen und sozialen Voraussetzungen dafür gegeben sind. Nach unserer Erfahrung steckt in vielen Siedlungen ein erhebliches Wandlungspotential, das man durch kluge Eingriffe und gegebenenfalls gezielten Abriss nutzen kann. Fehlende soziale Durchmischung ist nicht nur in Großwohnsiedlungen ein Problem, sondern auch in vermeintlich intakten Innenstadtbereichen anzutreffen. Reine Wohn- oder Büroquartiere führen auch in dichten, ehemals bürgerlichen Vierteln zu Verödung und sozialen Missständen. Besondere Würdigung verdienen nach unserer Auffassung die erfolgreichen Experimente der betreffenden Bauepoche. Immerhin gibt es herausragende Beispiele, deren Wert bereits heute erkannt und geschätzt wird. Dazu zählen das Olympische Dorf in München als geradezu perfekte Umsetzung der autofreien Stadt und auch die städtebaulich so beeindruckende Anlage der Prager Straße in Dresden. Hier wurde der “Internationalen Stil“ der Moderne die beispielhaft umgesetzt, wobei sich diese Aufzählung mühelos ergänzen ließe. Gegen Großsiedlungen wird viel polemisiert, befragt man jedoch die Bewohner selbst, stellt sich erstaunliches heraus: Einer Umfrage zufolge, die in Dresden unter den Bewohnern von Villenquartieren, Gründerzeitvierteln, Neubauten und Großwohnsiedlungen durchgeführt wurde, waren die Bewohner immer mit ihrer jeweils bestehenden Wohnsituation am zufriedensten. Auch dies kann doch als Indiz für die Potenziale der eben doch nicht immer ungeliebten Siedlungen gesehen werden.  Prof. Thomas Knerer und Eva Maria Lang sind Architekten in Dresden.Als Münchner reizte es Sie nach der Wende, sich in einer Stadt niederzulassen, in der durch die starken Kontraste und Maßstabsbrüche ein offensichtlicher Handlungsbedarf für Architekten bestand.Die Frage nach dem Umgang mit unserer jüngeren Architekturgeschichte stellt einen Schwerpunkt der Tätigkeit des Büros dar.Die Projekte von knerer und lang werden international publiziert. Auf der Architekturbiennale 2012 in Venedig war das Büro im Deutschen Beitrag „Reduce Reuse Recycle“ vertreten. 
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Frank Junker / 9.7.2013 / 10:11

Vorsitzender der Geschäftsführung der ABG Frankfurt Holding, Frankfurt

Ja ...

Insbesondere in den 1950ern bis in die 1970er Jahre hinein hat man Großwohnsiedlungen in der Bundesrepublik Deutschland zur Schaffung von bezahlbarem Wohnraum errichtet. Vielfach unterlagen und unterliegen diese der Sozialbindung. Eine nicht ausreichende sozialverträgliche Belegung, eine aus heutiger Sicht falsche städtebauliche Anordnung der Wohnquartiere und nicht zuletzt die Privatisierung öffentlicher Wohnungsbaugesellschaften haben die Probleme in den Großwohnsiedlungen in den vergangenen Jahren stetig vergrößert. Auf der anderen Seite bieten diese Großwohnsiedlungen nicht nur tausenden von Menschen eine Wohnung, sondern sie sind auch Teil der Entstehungsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Damit gehören diese Großwohnsiedlungen zur europäischen Stadt. Gleichwohl müssen wir uns den Herausforderungen der Weiterentwicklung dieser Großwohnsiedlungen widmen. Im Rahmen von behutsamen Stadtreparaturmaßnahmen, die auch den Städtebau umfassen müssen, muss eine Anpassung der Großwohnsiedlungen an die Herausforderungen gemeinschaftlichen sozialverträglichen Wohnens erfolgen. Dazu gehört nicht nur die energetische Sanierung und die optische Aufwertung der Siedlungen, sondern auch ein behutsamer Eingriff in die Belegung der Siedlungen zur Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung einer sozialverträglichen Quartiersbelegung und -entwicklung. Dies sollte miteinschließen, dass die auf der einen Seite großzügigen Grünflächen in diesen Großwohnsiedlungen auch auf der anderen Seite Nachverdichtungspotenzial zur Errichtung von neuen Wohnungen bieten. Im Rahmen dieser Nachverdichtungsmaßnahmen können nicht nur Stadtreparaturen, sondern auch andere Belegungen zur Stabilisierung der Quartiere erfolgen. Ein Beispiel der bewohnerverträglichen Entwicklung einer Großsiedlung ist derzeit in der Heinrich-Lübke-Siedlung in Frankfurt am Main zu sehen. Dort wird eine Großsiedlung aus den 1970er Jahren nicht nur energetisch und optisch optimiert, sondern durch Nachverdichtungsmaßnahmen wird neuer, zusätzlicher Wohnraum geschaffen, der neben einem Belegungstausch betreffend Bestandswohnungen zu einer sozialen Mischung des Quartiers und damit zu einer Stabilisierung nicht nur der Siedlung, sondern eines gesamten Stadtteils beiträgt. Dies hat auch die Frage der sozialen Infrastruktur zu beinhalten, ebenso wie eine Neuordnung der verkehrlichen Erschließung und Anbindung beziehungsweise Einbindung dieser Großsiedlungen in die Stadt überhaupt. Im Rahmen einer integralen, fachübergreifenden Betrachtung dieser Siedlungen müssen und werden wir Antworten zur notwendigen Fortentwicklung dieser Siedlungen finden, damit diese Großwohnsiedlungen ihren Platz in der europäischen Stadt auch weiterhin haben. Frank Junker, ist Vorsitzender der Geschäftsführung der ABG Frankfurt Holding. Sie ist die Dachorganisation der städtischen Wohnungsunternehmen mit Tochtergesellschaften wie Frankfurter Aufbau AG (FAAG) , Wohnheim GmbH, Hellerhof und Mibau. Zum Bestand der Holding gehören 50.000 Wohnungen und 35.000 weitere Mieteinheiten von Büros bis Garagen.
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Tobias Nagel / 7.7.2013 / 19:24

www.machmaplazda.com

Ja ...

Die Großwohnsiedlung an sich gehört zur europäischen Stadt, da sie auch heute noch ein sich entwickelnder Teil von ihr ist – ob entstehend oder verschwindend.Hiermit meine ich nicht nur die traditionell errichteten Gebäude der Vorkriegszeit, der 1950er und 1960er Jahre oder die industralisierten Bauweisen nachfolgender Jahrzehnte, sondern auch die gerade neu entstehenden Siedlungen.Alle wurden und werden geschaffen, um dem Zustrom der Menschen vom Land in die Stadt gerecht zu werden. Und das betrifft die Großwohnsiedlung damals wie heute. Die heutigen Siedlungen unterscheiden sich jedoch von ihren Vorgängern: Statt auf der „grünen Wiese“, entstehen diese Siedlungen (nicht nur, aber oftmals) auf innerstädtischen Flächen und sind somit bodenschützendes Flächenrecycling, gepaart mit dem Wunsch nach stadtzentraler Urbanität.Allerdings werden diese Gebiete heutzutage ungern mit dem uniformierenden Begriff „Großwohnsiedlung“ benannt, sondern lieber mit „Quartier“, „Viertel“ oder dem „neuen Stadtteil für junge Familien“. Im Grunde verbirgt sich dahinter jedoch die klassische Industrie- und Fertigteilbauweise wie in den Jahrzehnten zuvor, wenn auch weniger hochgeschossig und komplex.Dafür aber mittlerweile wieder viel enger zusammenstehend und mit weniger Zwischengrünflächen, so dass die Entwicklung vieler (sagen wir mal) Neubaugebiete schon jetzt vorprogrammiert ist: Innenstadtnaher Luxuseigentumswohnraum mit Wasserzugang, für diese Bauepoche als modernes Quartier erdacht  – demnächst lieblos, verlassen und vernachlässigt, da niemand auf Dauer vor allem diese Enge ertragen kann/möchte/will und sich die Ansprüche in einer schnelllebigen Zeit immer schneller verändern.Es scheint im Allgemeinen so, als wenn die Planer aus den Fehlern der früheren Planer-Generation(en) nicht gelernt haben. Hierzu gehören nicht nur der Zeitgeist, der sich in Holz, Stahl oder Beton widerspiegelt – sondern auch kurzlebige Verkehrskonzepte.So wurde einst die persönliche Automobilität hochgehalten (autogerechte Städte/Stadtteile/Siedlungen) und der Nahverkehr vernachlässigt. Erst jetzt, also Jahrzehnte später, wurde z.B. Bremen-Tenever an das Tram-Netz angeschlossen, während Hamburg-Osdorfer Born bis heute darauf wartet. Zugleich entstehen schon fast wieder zugige und abweisende Magistralen wie in der ehemaligen DDR, als Straßenkorridore und Tramstrecken, die in die neuen Siedlungen „gehauen“ werden (z.B. Frankfurt/Main -Riedberg). Ist es nicht der Zeitgeist, so ergibt man sich bereitwillig und ohne Wiederspruch dem Diktat des Immobilienmarktes.Die Großwohnsiedlung gehört also zur europäischen Stadt – um Wohnraum zu schaffen, aber auch um Neues auszuprobieren oder Fehler im Spielwiesenprinzip laufend zu wiederholen. Letzten Endes werden „der“ Großwohnsiedlung die „neuen“ Großwohnsiedlungen folgen, alte Bausubstanz wird dabei mal mehr, mal weniger verschwinden. Ob nun aus einzelnen Ziegeln, Waschbeton, Rauputz, Holz, Metall, Styropordämmfassade  oder gegossenen Fertigbauelement, spielt hier keine Rolle. Die Großwohnsiedlung ist Teil der europäischen Stadt und ihrer stetigen Neuerfindung. Tobias Nagel ist als Bodenwissenschaftler an einem Bundesforschungsinstitut in Brausnchweig tätig. In seiner Freizeit fotografiert und dokumentiert er Grosswohnsiedlung in Deutschland, welche auf machmaplazda.com präsentiert werden.
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Brigitte Schultz / 7.7.2013 / 9:49

Journalistin und Stadtforscherin, Berlin

Ja ...

Versteht man die „europäische Stadt“ als das Leitbild, das immer noch fast flächendeckend propagiert wird, brauchen wir nicht weiter zu diskutieren: Großwohnsiedlungen kommen darin schlicht nicht vor. Das Bild orientiert sich an der Stadt des 19. Jahrhunderts; zwei Stichworte wie „Blockrandbebauung“ und „Nutzungsmischung“ reichen, um Großwohnsiedlungen ins Lager der Gegenbeispiele zu verbannen. Sie vereinen scheinbar alles, was man in der idealisierten europäischen Stadt nicht haben will: sie sind meist reine Wohnsiedlungen, die Bewohnerstruktur ist eher einseitig, die öffentlichen Räume lassen klare Raumgrenzen vermissen.Was wir uns also viel eher fragen müssen, ist: Sollten Großwohnsiedlungen, trotz ihrer offensichtlichen Defizite, zur europäischen Stadt gehören? Aber natürlich! Sie sind eine Realität in unseren Städten, der wir nicht durch ein Klischeebild die Legitimation entziehen dürfen. Die Zeiten, in denen man glaubte, (nur) durch eine bauliche Form die Entwicklung der Bewohner beeinflussen zu können, sollten vorbei sein. Zu lange haben wir trial-and-error mit verschiedenen städtebaulichen Mustern gespielt – und der „error“ kam bestimmt – um daran noch ernsthaft glauben zu können. Wer gibt uns das Recht, eine Siedlungsform, die wir dysfunktional, veraltet oder einfach hässlich finden (und darum geht es nicht selten bei diesem Thema), für soziale Probleme verantwortlich zu machen?Es empfiehlt sich ein Blick in die Geschichte einiger solcher Siedlungen, um zu begreifen, dass weit mehr Faktoren als die bauliche Form - eine einseitige Belegungspolitik, mangelnde Instandhaltung, fehlende oder nie fertiggestellte Infrastruktur - zu ihren Problemen beigetragen haben. Dass das keine zwangsläufige Entwicklung war, zeigen Großformen wie im Wiener Alt Erlaa, die auch heute noch hervorragend funktionieren. Das schlechte Image ist eben oft auch nur ein Image, das sich mit der Realität der Bewohner fast nie 1:1 deckt.Großwohnsiedlungen haben ihre eigentliche Zukunft noch vor sich. Sie sind nachhaltiger als Einfamilienhausgebiete und die viel bejubelten „Townhouses“, ihre energetische Sanierung ist vielerorts in vollem Gange, und je weiter die Mieten in den Gründerzeitvierteln steigen, desto beliebter werden Großwohnsiedlungen auch bei Künstlern und Studenten werden. Welche Dynamiken und welchen Imagewandel das auslösen kann, wissen wir. Dr. Brigitte Schultz ist Journalistin und Stadtforscherin, derzeit arbeitet sie als Redakteurin bei der Zeitschrift Bauwelt. 2012 wurde sie für ihre Forschungen über den Wandel des Stadtverständnisses seit den sechziger Jahren an der TU Berlin promoviert. Im Mai erschien ihr Buch "Was heißt hier Stadt?" im Jovis Verlag. 
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Volker Kleinekort / 5.7.2013 / 17:11

FuE Projekt "Wie wohnen" mit Scherer, Schmeing, Walk, Wiesbaden | Darmstadt

Nein ...

Gehören Großwohnsiedlungen zur Europäischen Stadt? Nein, zumindest nicht zum Leitbild der Europäischen Stadt.Sind sie deswegen weniger lebenswerte Orte? Nein, das sind sie nicht. Sie folgen nur anderen Wertmaßstäben als dem in den letzten Jahren fast schon penetrant wiederholten Bild der europäischen Stadt.Gehören sie zur Geschichte der europäischen Stadtentwicklung? Ja. Helfen doch gerade diese Siedlungen das "Bild" der Europäischen Stadt aus unserer heutigen Sicht so klar abzugrenzen. Die Siedlungen sind meist monostrukturell geprägt. Sie sind damit weniger ein Ort der Gleichzeitigkeiten als ein Ort der einen Realität, des „Entweder-oder“. Dem gegenüber steht das „Sowohl-als-auch“ der Europäischen Stadt, wie sie Colin Rowe in seinem Buch Collage City treffend beschrieben hat.Die mit dem Essay verbundene Fragestellung führt etwas in die Irre. Man könnte denken, dass ein "Nein" automatisch die Räume der Nachkriegsmoderne diskreditiert. Das tut es nicht.Entgegen einer öffentlichen Wahrnehmung sind diese Siedlungen mit ihren gerade durch die Freiraumpotenziale geprägten intakten Nachbarschaften von den Bewohnern aber häufig sehr positiv wahrgenommen. Dazu halten sie Flächen vor, die oft die letzten Rückzugsgebiete des mietpreisgebundenen Wohnungsbaus sind – "Wir leben gerne in Garath!" Volker Kleinekort, Architekt und Stadtplaner BDA, eigenes Büro in Düsseldorf und Professor für Städtebau und Gebäudelehre an der Hochschule RheinMain in Wiesbaden. Er ist Projektleiter der Forschungsvorhabens „Wie Wohnen - Strategische Bestandsentwicklung im Wohnungsbau“ (Kleinekort, Schmeing), welches sich mit den urbanen Potentialen moderner Siedlungen der Nachkriegszeit auseinandersetzt.  
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Anne Kockelkorn / 5.7.2013 / 10:39

Architekturhistorikerin, Zürich

Ja ...

Selbstverständlich sind ‚Großwohnsiedlungen’ als bauliches Zeugnis der Nachkriegszeit Teil der europäischen Stadt! Der Städtebau der Moderne ist historisch gesehen eine überwiegend europäische Erfindung, allein aufgrund der CIAM-Konferenzen. Dennoch hat es sich in den Diskursen von Architekten und Stadtplanern spätestens seit der ersten Architekturbiennale von 1980 durchgesetzt, den Begriff der „Europäischen Stadt“ auf ein einziges formales städtebauliches Leitbild einzuschränken, das sein ästhetisches Formenrepertoire aus den Architektursprachen vor dem Ersten Weltkrieg bezieht und dessen Wunsch nach "Urbanität" sich aus dem Zusammenspiel von Blockrandbebauung, Funktionsdichte und Fußläufigkeit generiert.Dieses Leitbild ist enger mit dem US-Amerikanischen New Urbanism verwandt als mit europäischer Stadtgeschichte und es baut seinen kommerziellen Erfolg auf zwei Irrtümern auf: dem Irrtum, bauliche Form als determinierend für soziale Beziehungen zu betrachten; und dem Irrtum, tiefgreifende Faktoren wie urbane Infrastruktur, Immobilienmarkt oder Produktionsbedingungen ignorieren und „Stadt“ als formal lösbares Problem betrachten zu können. Der Bezug auf die vorindustriellen Städte des 15. bis 18. Jahrhunderts verdeutlicht die fiktionalen Eigenschaften dieses Leitbilds: Stadtentwürfe von Baumeistern aufgeklärter politischer Souveräne haben mit der urbanen, wirtschaftlichen und soziokulturellen Realität des 21. Jahrhunderts in Europa in etwa so viel zu tun wie mit dem Auenland in Mittelerde, das als literarische Fiktion immerhin ein europäisches Produkt des 20. Jahrhundert ist. Auch Großwohnsiedlungen eignen sich als Träger unterschiedlichster Fiktionen, vom Sinnbild des technischen Fortschritt über das Klischee sozialer Prekarität bis zur Verkörperung des Metropolitanen im Sinne Koolhaasscher Bigness. Ein Verständnis von Stadt, das dem Großwohnungsbau einen angemessenen Platz in der europäischen Stadtgeschichte einräumt müsste die Kraft solcher Fiktionen anerkennen – und zugleich die ökonomischen und infrastrukturellen Hebel im Auge behalten, die die Produktion der gebauten Umwelt weitgehend bestimmen. Anne Kockelkorn arbeitet seit 2006 als freie Architekturkritikerin und forscht und lehrt seit 2009 am Institut gta der ETH Zürich an den Lehrstühlen für Architekturtheorie, Soziologie und Architekturgeschichte. In ihrer Dissertation über die Projekte Ricardo Bofills für die Pariser Villes Nouvelles untersucht sie den Einfluss sozialer Prozesse auf den Diskurs, die Repräsentation und die Produktion von Grosswohnungsbauten. Sie studierte Architektur in Paris und Berlin.
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Bernd Hunger / 4.7.2013 / 12:59

Referent für Wohnungs- und Städtebau, Forschung und Entwicklung beim GdW Bundesverband deutscher Wohnungs- und Immobilienuntern

Ja ...

Die Frage mutet seltsam an, da sie im Unterton die Möglichkeit unterstellt, dass die Masse des europäischen Baugeschehens des 20.Jh. "uneuropäisch" sei. Damit spielt sie offenbar auf die in einigen Planerkreisen anzutreffende Auffassung an, dass die europäische Stadt eine räumliche Form ist, die mit der der Blockrandbebauung des 19.Jh. ihren krönenden Abschluss gefunden hat. Alles Spätere, die Städtebaumoderne des 20.Jh. im allgemeinen und die nach dem II. Weltkrieg errichteten Wohnsiedlungen im speziellen, seien eine städtebaulicher Unglücksfall, den es tunlich zu entsorgen oder durch "kritische Rekonstruktion" in eine europakompatible Form zu überführen gilt. Am besten, dieser ganze Städtebauschrott sei nie gebaut worden. Walter Gropius, Bruno Taut und Mies van der Rohe würden sich verwundert die Augen reiben."Europa" und "Stadt" durch Städtebau zu definieren ist heikel. Die Europäische Stadt war und ist ein zivilisatorisches Projekt ihrer Bürger. Sie beginnt mit der Idee der antiken Polis, dass der Zusammenschluss freier Bürger den Staat bildet und mündet in der über Jahrhunderte geformten und gegen Herrscherwillkür erkämpften Idee der Selbstverwaltung, für die sich die kommunalen Gemeinwesen unterschiedlichste Leitbilder und Regeln gegeben haben.Die "Leipzig – Charta der europäischen Stadt" greift diese Wurzeln auf und stellt den sozialen Zusammenhalt innerhalb eines demokratischen Gemeinwesens als grundlegendes Leitbild ins Zentrum. Zu dessen Verwirklichung wird den europäischen Staaten vorgeschlagen – und erst jetzt kommt der Städtebau zumindest indirekt ins Spiel - auf integrierte Stadtentwicklung unter Beteiligung der Stadtgesellschaft und die besondere Förderung benachteiligter Stadtquartiere zu setzen.In dieser sozialpolitischen Tradition stehen die großen Wohnsiedlungen des 20.Jh. Als Gegenentwurf zur Mietskaserne und zum Spekulantentum haben unsere Altvorderen unter Kampfbegriffen wie "Licht, Luft, Sonne" eine aufgelockerte Wohnform entwickelt, die auf gutes Wohnen für breite Schichten der Bevölkerung mit der dazugehörenden Versorgung zielte. Mit Hinterhöfen und dem Unterschied zwischen Beletage und Kellerwohnung sollte Schluss sein. Und das ist überzeugend gelungen.Sind die Siedlungen der 1920er Jahre mittlerweile schon Weltkulturerbe, so werden ihre ungleich größeren, den gleichen städtebaulichen und sozialen Prinzipien folgenden Nachfolger erst zögernd als Leistung wahrgenommen, die zur Überwindung der Wohnungsnot führte und die dicht bevölkerten Altstädte so entlastete, dass diese 2 Generationen später zum behutsam sanierten städtebaulichen Inbegriff der "Europäischen Stadt" werden konnten.Allein schon die schiere Größe der Siedlungen hat ebenso wie mancherorts unsensible Belegungspolitiken dazu geführt dass einige der großen Wohnsiedlungen zu Sorgenkindern mit negativem Image wurden. Mittlerweile kommt in vielen europäischen Ländern ein weitreichender und behutsamer Umbauprozess in Gang, der die Siedlungen an neue energetische wie demografische Erfordernisse anpasst und gleichzeitig bezahlbares Wohnen für viele ermöglicht. Diese Erneuerung als großes europäisches Projekt zu unterstützen, ist eine der derzeit interessantesten planerischen Aufgaben. Dr. Bernd Hunger ist Referent für Wohnungs- und Städtebau, Forschung und Entwicklung beim GdW Bundesverband deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen e.V. Vorher war er unter anderem Abteilungsleiter am Institut für Städtebau und Architektur der Bauakademie der DDR und Inhaber des StadtBüro Hunger. Er verantwortete zahlreiche Planungs- und Forschungsstudien für Städte, Verbände und das BMVBW/BBR.
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Christiane Augsburger / 3.7.2013 / 11:55

Bürgermeisterin, Schwalbach

Ja ...

Ja, Großwohnsiedlungen gehören meiner Ansicht nach zur europäischen Stadt. Historische Entwicklungen haben es immer wieder mit sich gebracht, dass vielen Menschen innerhalb kurzer Zeit ein angemessenes Zuhause ermöglicht werden musste. Wenn dabei ein städtebaulicher, gestalterischer Wille, der sich sozialen und ökologischen Zielsetzungen verpflichtet weiß, verwirklicht wird, ist dies ein großer Vorteil. So war in den 1950er Jahren die Wohnungsnot im Rhein-Main-Gebiet eine der schlimmsten Sorgen der Familien. Ein Beitrag zur Lösung dieses Problems war der Bau der Wohnstadt Limes in den sechziger Jahren in Schwalbach am Taunus.Aus dem 1959 bundesweit durchgeführten städtebaulichen Wettbewerb ging Hans Bernhard Reichow mit seinem Konzept der „organischen Stadtlandschaft“ als Sieger hervor (Ernst May holte übrigens den zweiten Platz.) Die neue Wohnsiedlung, für zehntausend Menschen, in der Form eines großen Blattes gebaut, vereint viele Pluspunkte: Die Bebauung folgt der Topographie des Geländes, mit den höchsten Gebäuden als Landmarke an der „Mittelrippe“, dem Hans-Bernhard-Reichow-Weg. Die Wohnungen befinden sich zu zwei Dritteln in mehrgeschossigen Häusern und zu einem Drittel in Eigenheimen, beispielsweise in Kettenbungalows oder Doppelhäusern am Rand der Siedlung, die Gebäude sind zur Sonne hin ausgerichtet. Großzügig bemessen sind Grünflächen und die Gärten der Reihenhäuser; Parks, Stadtwald, Waldfriedhof und Kleingärten schaffen einen grünen Rahmen. Die Verkehrsführung trennt Fußwege, Ringstraßen mit begrünten Lärmschutzwällen und Stichstraßen mit Wendekreisen. Die Siedlung verfügt über eine hervorragende Infrastruktur mit Schulen, Kindergärten, Kirchen und Sportplätzen und dem ehemaligen Hallenbad, an dessen Stelle zurzeit ein Naturschwimmbad entsteht. Sie ist mit zwei kleinen Nebenzentren und einer Einkaufspassage ausgestattet und mit dem S-Bahnhof Schwalbach Limes an das S-Bahnnetz angebunden.Insgesamt herrscht hier eine städtebauliche Qualität vor, die viele Schwalbacherinnen und Schwalbacher schätzen. Für einige von ihnen war es eine ganz bewusste Entscheidung, in die Wohnstadt Limes zu ziehen. Gemeinsam mit diesen „Stakeholdern“, die der Idee der stadtlandschaftlichen Einheit verbunden sind, wollen wir die Wohnstadt in ihrer Besonderheit erhalten. Christiane Augsburger, studierte Betriebswirtin, ist seit 2008 Bürgermeisterin der Stadt Schwalbach am Taunus; zuvor war sie als Erste Stadträtin auch für das Bau- und Planungsamt verantwortlich. Augsburger wurde 1960 in Alt-Schwalbach geboren und ist dort aufgewachsen. Seit mehr als zwei Jahrzehnten wohnt Christiane Augsburger in der Wohnstadt Limes und kennt damit beide Varianten des Wohnens in Schwalbach am Taunus. Seit Anfang der 1990er Jahre ist sie in der Kommunalpolitik ihrer Heimatstadt aktiv, seit 2006 im Kreistag des Main-Taunus-Kreises. Augsburger ist Vorsitzende der Hans-Bernhard-Reichow-Gesellschaft mit Sitz in Schwalbach am Taunus
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Theresia Gürtler Berger / 2.7.2013 / 9:49

Denkmalplegerin, Luzern

Ja ...

In den Köpfen vieler hat sich als Ideal der europäischen Stadt die befestigte mittelalterliche Stadt und/oder die homogenen Stadterweiterungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts festgesetzt: Heterogenität, Brüche, Maßstabssprünge, Ungeordnetes oder gar Brachen in der Stadtgestalt beunruhigen dagegen. Und dennoch ist das Ungeordnete – schaut man unvoreingenommen auf europäische Städte – die Regel. Die europäisch geordnete, aufeinander abgestimmte Stadt ist eine Illusion, ein Wunschtraum. Im Ungeordneten, dem gleichzeitig Ungleichzeitigen, dem Nebeneinander von Unvereinbarem liegen die Lebendigkeit und die Nischen für Kreativität sowie die Urbanität.Ein nicht unwesentlicher Teil dieser Urbanität – schon allein angesichts des großen Bauvolumens – sind die viel geschmähten  Grosswohnsiedlungen. Spätestens seit Kriegsende und damit seit mehr als zwei Generationen sind sie fester Bestandteil der europäischen Stadt.Nach der Faustregel der Denkmalpflege ist damit der zeitliche Abstand von 30 Jahren erreicht, um sie einer „unvoreingenommenen“ Inventarisierung zu unterziehen.Und einige sind bereits als Baudenkmäler unter Schutz gestellt wie etwa die Trabantenstadt Cité du Lignon in Vernier, einem Vorort von Genf.  Das Architektenteam um Georges Addor konzipierte in den frühen 70er Jahren den über einen Kilometer langen, sich verzeigenden Polygonzug mit neun bis zu fünfzehn Geschossen, der mit  zwei 29- bzw. 34-geschossigen Scheibenhochhäusern abschliesst. In einer Phase der größten Wohnungsnot sollten 10 000 Menschen hier untergebracht werden, heute leben 5 700 Menschen auf der Rhoneklippe, eingebettet in eine weitläufige Gartenlandschaft. Ein städtebaulicher Peitschenknall, der einiges an Unruhe und vor allem große Befürchtungen in der bis dahin beschaulichen Schweizer Stadtlandschaft auslöste.Die Satellitenstadt ist allen Prophezeiungen zum Trotz bis heute erfolgreich: Erfolgreich funktional u.a. mit zwei Kirchen. Erfolgreich sozial durchmischt, mit freitragenden und subventionierten Wohnungen neben Stockwerkseigentum, dies alles hinter einer einheitlichen Fassade. Erfolgreich ökonomisch aufgestellt, erfolgreich architektonisch und landschaftlich umgesetzt. Nach wie vor oder erneut ist Le Lignon als Wohnstandort begehrt und geschätzt, sodass die Siedlung auf Wunsch – auch der Eigentumswohnungsbesitzer – unter Schutz gestellt wurde. Cité du Lignon widerlegt in seiner Urbanität und Vitalität die üblichen Vorbehalte und Vorurteile gegen Großwohnsiedlungen. Sie tritt darüberhinaus zur Zeit den Beweis an, dass die Bausubstanz der Nachkriegszeit mit pragmatischen, material- und konstruktionsgeschulten Verstand, ökonomischen und bauphysikalischen Augenmass energetisch ertüchtigt werden kann ohne die architektonischen Qualität und unverwechselbare Aussehen sowie die originale Bausubstanz zu verlieren. Gestützt auf das pragmatische Matrixsystem der ETH Lausanne werden denkmalpflegerische, architektonische, bauphysikalische und ökonomische Anforderungen mit dem materialorientierten Instandhalten, -setzen, Ersetzen und Erneuern verschnitten. Eine Anamnese des Gebäudes bis ins einzelne Bauteil geht dem voraus, und der Ausnahmefall Schutzobjekt schafft die notwendigen Spielräume für individuelle Lösungen. Übrigens - Erich Kästner lebte in der Trabantenstadt Neuperlach. Max Frisch als städtebauliches Statement im Zürcher Scheibenhochhausgebirge Lochergut. Schon allein dies könnte nicht nur eine Denktafel, sondern eine Unterschutzstellung rechtfertigen. Mittlerweile beleben und definieren mit grosser „Wohnlust“ nachgeborene Generationen die ehemaligen städtebaulichen Utopien wie im Münchner Olympiadorf. Es wird Zeit, die kurzsichtigen Vorurteile abzulegen und sorgsamer, aber auch pragmatischer mit der „Stadt in der Stadt“ als selbstverständlichen Teil unserer Baukultur umzugehen. Theresia Gürtler Berger, geb. 1960 hat in München Architekturstudiert und an der ETH Zürich promoviert. 1997 bis 2011 war sie im Amt für Städtebau der Stadt Zürich Projektleiterin in der Praktischen Denkmalpflege, 2005 bis 2011 hatte sie die Stiftungsprofessur Bauwerkserhaltung und Denkmalpflege der Wüstenrot Stiftung an der Universität Stuttgart inne. Heute ist sie Ressortleiterin Denkmalpflege und Kulturgüterschutz in der Dienstabteilung Städtebau der Baudirektion der Stadt Luzern; sie lebt in Zürich.Abbildung: Cité du Lignon bei GenfBild: Wiki commons/ Port(u*o)s 
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Markus Erich-Delattre / 30.6.2013 / 17:41

Nein ...

Auch wenn ich die Meinung von Michael Koch teile: Ich stimme mit Nein. Das Wohnen in funktionsgemischten Quartieren ist generationsübergreifend sehr beliebt; die Meiten sind hoch; steigen weiter und sind selbst für Angestellte des Öffentlichen Dienstes oder Beamte im mittleren Dienst oft nicht mehr bezahlbar. Nicht wenige Menschen haben aus o.g. Gründen keine Wahl und müssen sich eine Wohnung in den Großsiedlungen suchen. Meiner Meinung nach ignoriert der Gastbeitrag die Wohnwünsche vieler Bürgerinnen und Bürger. Soll an längst überwundene geglaubte Planungsfehler, an die Irrtümer und Phantasmen des Zeitalters der Extreme wieder angeknüpft werden? Warum engagieren sich die Autoren des Gastbeitrages nicht für eine Rehabilitierung der dichten Stadt der kurzen Wege; der Verknüpfung von Wohnen, Kultur und Arbeitswelt? Leider versucht der Gastbeitrag schon vorab das Ergebnis der Umfrage zu beinflussen. Eine wirkliche Pro vs. Contra Debatte ist so nicht möglich.   
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Andreas Ruby / 30.6.2013 / 11:24

Architekturtheoretiker und -kurator, Berlin

Nein ...

Nein, Großsiedlungen gehören nicht zur europäischen Stadt, sie sind eine eigene Typologie von Stadt. Ihre Erbauer wollten eine neue Stadt, die nach anderen Prinzipien funktionierte als die historisch gewachsene europäische Stadt. Eine Stadt, die Enge und Dichte der historischen Stadt durch große Freiräume aufweitet und die „rue corridor“ (Le Corbusier) in einem Meer aus Licht, Luft und Sonne auflöst. Städtische Funktionen wie Arbeit, Einkaufen, Wohnen, Verkehr, die in der traditionellen Stadt  räumlich eng verzahnt waren, lagen in dieser modernen Stadtkonzeption räumlich auseinander. Dieser Blueprint hat sich in den meisten Großwohnsiedlungen der Nachkriegsmoderne erhalten. Das Ergebnis ist eine Form von Stadt, die funktional größtenteils aus Wohnungsbau besteht. Durch diese monofunktionale Struktur verlieren Großwohnsiedlungen die für die klassische europäische Stadt so typische Interaktionsdichte, die durch ihre hohe Funktionsmischung und Bebauungsdichte möglich wird. In dem Berliner Gründerzeitviertel, in dem ich heute wohne, kann ich meine meisten alltäglichen Besorgungen als Fußgänger oder Fahrradfahrer erledigen – Wohnung, Büro, Kindergarten, Einzelhandel befinden sich in einem Radius von gut 500 Meter – es ist die 5-minute-city. Die Plattenbausiedling mit 10.000 Wohnungen in Dresden, in der ich zwischen meinem 10. und 16. Lebensjahr wohnte, war dagegen eher eine 30-minute-city. Die Wege waren eigentlich immer weit, egal wohin. Es gab viel Freiraum mit einer zuverlässig symbolischen Begrünung, deren wichtigste Funktion darin bestand, die Abwesenheit realer Funktionen zu kaschieren. Nach der Wende haben sich Shoppingmallbetreiber das strukturell fehlende Einzelhandelsangebot zu Nutze gemacht und gezielt große Einkaufsmärkte, Multiplexe und ähnliche Blockbusterprogramme an den Rand der Siedlung gesetzt. Ein Schicksal, das fast alle Großwohnsiedlungen in Ostdeutschland ereilt hat, was sie der amerikanischen Suburbia auf verwirrende Weise ähnlich macht: hier wie da gibt es große Bereiche monofunktionellen Wohnens, die räumlich komplett getrennt sind von großen Gebäudekomplexen für Einkaufen, Freizeit und andere urbane Funktionen. Aus genau dem Grund glaube ich auch, dass die Suburbia nicht zur europäischen Stadt gehört. Auch sie ist im evolutionären Stammbaum der Stadtgeschichte ein besonderer Zweig. Für beide muss und kann man Strategien finden, um ihnen gerecht zu werden und sie gemäß ihrer eigenen Logik weiter zu entwickeln. Aber vielleicht ist die Bedingung dafür, dass man ihre prinzipielle Differenz von der europäischen Stadt überhaupt erst einmal postuliert. Das bedeutet gerade nicht, Großwohnsiedlungen ihr legitimes Existenzrecht abzusprechen. Im Gegenteil. Es bedeutet, darauf hinzuweisen, dass die europäische Stadt nicht die Norm ist, als die sie heute zumindest in Westeuropa gern gehandelt wird und dass es darüberhinaus andere Formen von Stadt mit eigenen Spielregeln gibt (die afrikanische, die asiatische etc.), die zu der komplexen Phänomenologie der zeitgenösssischen Stadt selbstverständlich mit dazu gehören. Andreas Ruby ist Architekturtheoretiker, -kurator und –verleger. Er führt zusammen mit Ilka Ruby die Agentur für Architekturvermittlung textbild und den Architekturbuchverlag RUBY PRESS. Darüberhinaus lehrte er Architekturtheorie an verschiedenen internationalen Architekturschulen (Cornell University, Universität Graz, Ecole Nationale Supérieure d’Architecture Paris Malaquais u.a.). 2011 konzipierte er zusammen mit Ilka Ruby im Auftrag der Bundesstiftung Baukultur das Onlinedebattenjournal bkult, das seitdem von textbild redaktionell betreut wird. 
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Richard Baxter / 29.6.2013 / 11:03

Geograf, London

Jein ...

A problem with the term ‘large housing estate’, or even just ‘estate’, is that its meaning is often reduced to images and stories of apocalyptic inner city deprivation. However, the diversity of large housing estates is striking, for example in terms of their architecture, condition, community and social stability. In reality, there are some large estates in London that are widely considered a success. The most obvious of these is the Barbican Estate, which was designed by architects Chamberlin, Powell and Bon in the 1960s. Therefore, there will always be some large estates that belong to the city since they contribute positively to the material and social fabric, and the housing stock. The question is more complex for large estates whose contribution to the city is more ambiguous. Undoubtedly these places are home to many residents, a point that should not be easily dismissed because of the powerful attachments, emotions and memories involved in home. Some residents enjoy the relationships they have made over the years and the comparatively inexpensive rents. In high-rise estates some also enjoy the benefits of high living, such as the natural light and the view. However, it would be inaccurate to suggest that problems on these estates are just urban myth. Other residents were never fully able to make home because of poor design and construction, deteriorating material environments, anti-social behavior and fear of crime. So do these more ambiguous estates belong to the city? In an ideal world this would be answered by the residents who live there, rather than by policy makers, architects and academics. However, I suspect the responses would be diverse. Attached to the architecture, some residents would want their buildings refurbished. Others would want them knocked down and new neighbourhoods built that are smaller in scale and have more vibrant street life. The majority want to remain in the same inner city locations they call home. So the simple solution is to refurbish some buildings on large estates, which would also preserve a type of mass architecture that is important in the history of housing. But the remaining buildings should be demolished and new homes built for residents who want something different. However, in London this is not what is happening. Arguing that they do not have the money to finance such plans, some policy makers turn to private developers or housing associations that demolish the estates and build a high proportion of new homes for the private market. The existing residents are displaced. So the issue becomes not just what housing designs belong to the city, but, of course, what ideas and values belong to the city? This is an urgent matter since large estates in prime inner city locations are being demolished and many residents are faced with uncertain futures. Richard Baxter studierte Geografie am King’s College in London. 2008 wurde er mit einer Arbeit zum Leben in Hochhäusern promoviert. Zur Zeit ist er Fellow am Centre for Studies of Home am Queen Mary College in London.
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Michael Koch / 28.6.2013 / 8:08

Stadtplaner & Professor, Hamburg

Ja ...

Großsiedlungen waren Stadtbausteine, als solche geplant, sie sind es und sie können es auch weiterhin sein. Zwei Begriffe, die im Zusammenhang mit der IBA `87 in Berlin entstanden sind – nämlich „Behutsame Erneuerung“ und „kritische Rekonstruktion“ –, könnten auch als methodischer Zutritt hilfreich sein, wenn es um die Auseinandersetzung mit Großsiedlungen geht. Diese beiden Begriffe sind ja nicht an die Gründerzeitstadt oder an eine bestimmte Stadtform gebunden.Man kennt das Bild mit der Hand Le Corbusiers auf einem seiner Pläne und das von Walter Siebel damit prägnant formulierte Gott-Vater-Modell der Planung. Dieser Gedanke liegt diesen Großsiedlungen zugrunde: Das neue Bauen führe zur neuen Stadt und implizit auch zum neuen Menschen. Das ist gewissermaßen die disziplinäre Selbstüberschätzung, mit der wir auch heute noch zu kämpfen haben. Diese disziplinäre Selbstüberschätzung ist nicht gebunden an eine städtebauliche Form, sondern wir finden sie auch dann, wenn uns als Stadt der Zukunft städtebauliche Formen des 19. Jahrhunderts angeboten und auch mit einem entsprechend gesellschaftlichen Heilungsversprechen begründet werden. Das Dumme ist, dass diese disziplinäre Selbstüberschätzung immer wieder auch durch die Politik gefordert wird, wenn suggeriert wird, dass gesellschaftliche Veränderungen durch einfache, in Wahlperioden überschaubare Interventionen scheinbar realisierbar sind. Man will gesellschaftliche Probleme durch Bauen lösen und packt die eigentlichen Probleme nicht an. Großsiedlungen waren nie Ghettos im Sinne einer soziologischen Definition. Großsiedlungen sind, davon bin ich fest überzeugt, immer auch Heimat, sind es gewesen und sind es jetzt noch. Diese Identifikation der Bewohnerschaft wird in der Regel verkannt. Viele reden über die Siedlungen und waren noch nie dort. Wir müssen uns aber in diese Siedlungen hineinbegeben, dort vielleicht auch wohnen und mit den Menschen vor Ort in Kontakt treten, um dies zu verstehen.Die „behutsame Erneuerung“ und „kritische Rekonstruktion“ wären meines Erachtens ein richtiger, angemessener, intellektueller Zutritt, Großsiedlungen als Stadtbausteine weiterzuqualifizieren. Großsiedlungen sind bauliche, aber auch soziale Ressourcen. Sie sind Teil der städtischen Identität. Sie sind unfertig, gar kein Zweifel, sie sind auch un-zeitgemäß und müssen um- und weitergebaut werden.Um es etwas schwülstig zu sagen: Entwicklungsstrategien für Großsiedlungen sind Experimente zivilgesellschaftliche Stadtproduktion und performative wie urbanistische Maßarbeit. Und ich glaube, wir müssen sie als solche begreifen. Trotz ihrer enormen Größe meine ich, dass man sich mit sehr viel Liebe fürs Detail und Empathie an diese Großsiedlungen heranbewegen und klein anfangen muss. Michael Koch ist seit 2004 Professor  für Städtebau und Quartierplanung im Studiengang Stadtplanung an der TU Hamburg-Harburg, der 2006 an die neu gegründete HafenCity Universität Hamburg transferiert wurde. Zur Zeit ist er Dekan des Bachelor-Studiengangs Stadtplanung der HCU und Sprecher der HCU-Forschungsgruppe Urbane Metamorphosen. Michael Koch ist Mitinhaber des Büros yellow z urbanism architecture Berlin/ Zürich. 
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Frank Bielka / 27.6.2013 / 10:06

Vorstandsmitglied degewo, Berlin

Ja ...

Ohne zu zögern: Ja! Großwohnsiedlungen sind Ikonen der Nachkriegsmoderne und Teil unserer Baukultur. Berühmte Architekten haben sich an ihrem Bau beteiligt. Nicht nur im Westen, auch in der DDR und anderen Staaten des ehemaligen Ostblocks prägten sie den Städtebau der 1960er und 1970er Jahre. Die Berliner Gropiusstadt ist ein Beispiel dafür, dass diese Siedlungen städtebaulich wertvoll sein können: In der nach Gropius‘ Masterplan zwischen 1962 bis 1975 angelegten Siedlung verbinden sich weitläufige Grünflächen, eine kluge Verkehrsinfrastruktur sowie unterschiedliche Häusertypen, vom Hochhaus bis zum Bungalow. Diese drei Elemente machen bis heute die städtebauliche Qualität dieser, aber auch anderer Großwohnsiedlungen aus.Es ist unbestritten, dass mit den Großwohnsiedlungen auch neue Probleme entstanden sind. Vielfach war von anonymen, seelenlosen Orten die Rede. Vielfach zu Unrecht, denn auch zwischen Hochhäusern gibt es Orte der Identifikation und gute Nachbarschaft.Wer beispielsweise die heutigen Bewohner Berlin-Marzahns oder der Gropiusstadt befragt, bekommt eine klare Antwort: Die Menschen fühlen sich heimisch, sie identifizieren sich mit ihrer Großwohnsiedlung. „Heimat Großsiedlung“ haben wir deshalb 2012 unsere Ausstellung zum 50. Geburtstag der Gropiusstadt genannt. Nebeneinander gestellt, sprechen diese Begriffe treffend das Spannungsfeld an, in dem sich der Diskurs bis heute bewegt.Die Aufgabe besteht darin, unsere Großwohnsiedlungen weiterzuentwickeln und auch in Zukunft lebenswert zu gestalten. Wir haben bereits angefangen, investieren in energetische Modernisierung und nachhaltige Energiekonzepte, werten die Siedlungen gezielt mit Wohnungsneubau auf, unterstützen Schulen und Kitas und stellen ein Wohnungsangebot für unterschiedliche Zielgruppen zur Verfügung. In naher Zukunft, so hoffe ich, werden wir über die Frage, ob Großwohnsiedlungen zum Modell der europäischen Stadt gehören, gar nicht mehr debattieren, sondern sie klar positiv beantworten. Frank Bielka ist seit 2003 Vorstandsmitglied der degewo, dem größten kommunalen Wohnungsunternehmen Berlins. Zuvor war er Staatssekretär in den Senatsverwaltungen für Bau- und Wohnungswesen, Stadtentwicklung und Finanzen. Von 1989 bis 1991 war er Bezirksbürgermeister von Berlin-Neukölln.
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Andreas Garkisch / 26.6.2013 / 9:52

Architekt, München

Ja ...

1922 hat Fritz Schuhmacher die Idee eine moderne Industriestadt im Norden Kölns zu bauen. Fast 30 Jahre später greift Rudolf Schwarz, mittlerweile Stadtbaumeister, auf der Suche nach einer Entlastung der Altstadt, diese Idee wieder auf und entwickelt sie als Doppelstadt weiter. Köln mit seiner Altstadt im Süden und Chorweiler mit der Funktion einer Industrie- und Arbeiterstadt im Norden bilden die beiden neuen Zentrums des Stadtbunds. Man spürt an den Begriffen, wie Nachbarschaft, Quartier und Stadtbund den Gestaltungswillen von Rudolf Schwarz, der sich niederschlägt in der sehr romantischen Vorstellung von Stadtentwicklung.Einige Jahre später entwickelte nach den künstlerischen Grundsätzen von Camillo Sitte eine junge Gruppe von Planern im Stadtplanungsamt die endgültige Planung von Köln Chorweiler. Dabei entstand eine Großsiedlung nach den Vorstellungen des malerischen Städtebaus, die noch heute, bis auf die durch ein Einkaufszentrum zerstörte Mitte, räumlich spürbar ist.In einer dieser Nachbarschaften Chorweilers in Seeberg hat Oswald Matthias Ungers einen seiner besten Wohnungsbauten gebaut. Er differenziert dabei die große räumliche Anordnung des Städtebaus im Kleinen weiter.Das ist nur eine von den vielen Geschichten, die zeigt, welchen integralen Bestandteil für die Architekturgeschichte der europäischen Stadt, die Großsiedlungen darstellen, wie die Planungsideen und Vorstellungen von einer Generation zur nächsten weiter getragen werden. Wenn wir nun verstehen wollen, warum die letzte Utopie scheiterte, werden wir uns mit dieser Geschichte auseinandersetzen müssen. Dabei dürfen wir uns nicht von dem populären Leitbild der europäischen Stadt, mit der unerfüllbaren Hoffnung, die traditionellen Stadtstrukturen wieder zu gewinnen, abhalten lassen. Denn es werden neue Leitbilder kommen und jedes populäre Leitbild wird wieder eher einer diffusen Idee als der gebauten Realität entsprechen.Doch bei einer ernsthaften Auseinandersetzung erreichen wir vielleicht ein Verständnis über das Ende der Moderne, das uns hilft endgültig die Melancholie der Postmoderne abzustreifen. Andreas Garkisch, geboren 1967 in Mainz, Deutschland, 1989-1994 Architekturstudium an der TU München, 1994 Gründung des Büros 02 München mit Michael Wimmer, 1998 Partnerschaft mit Karin Schmid und Umbenennung des Büros in 03 München, 2005 Berufung in die Akademie für Städtebau und Landesplanung DASL, 2006 Aufnahme in den Bund Deutscher Architekten BDA, 2007 Eintragung in die Stadtplanerliste, 2009 Umwandlung von 03 München GbR in 03 Architekten GmbH, 2012 Berufung als Vertretungsprofessor an die TU Darmstadt.
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Sebastian Haumann / 25.6.2013 / 10:32

Historiker, TU Darmstadt

Ja ...

....Ein zentrales Merkmal der europäischen Stadt ist der öffentliche Raum. Historisch entwickelte sich im öffentlichen Raum eine Zivilgesellschaft, die Grundlage einer demokratischen Kultur war. Die Einsicht in diesen Zusammenhang war grundlegend für die Planung der westeuropäischen Großsiedlungen in den 1960er und 1970er Jahren. Öffentlichkeit galt als Voraussetzung für eine zivilgesellschaftliche Demokratie. Entsprechend wurden Gemeinschaftseinrichtungen, Einkaufszentren oder Grünflächen mit dem Anspruch geplant, Orte der Versammlung und des Austauschs zu werden. „Kommunikation“ war ein Schlagwort jener Jahre. Öffentliche Räume der Großsiedlungen sollten so angelegt sein, dass sie die Kommunikation unter den Bewohnern anregen und sie zur gesellschaftlichen Teilhabe ermutigen.Eine oft wiederholte Kritik an Großsiedlungen ist, dass die Umsetzung hinter der Planung zurückgeblieben sei. Das gilt gerade auch für den öffentlichen Raum. Wenn Marktplätze oder Bürgerhäuser zum Teil erst Jahrzehnte nach der Wohnbebauung, zum Teil überhaupt nichterrichtet wurden, scheinen Zweifel berechtigt, ob die avisierte Öffentlichkeit und eine funktionierende Zivilgesellschaft überhaupt hätten zu Stande kommen können. Schaut man aber nicht nur auf die für die Öffentlichkeit geplanten Räume, stellt man fest, dass Bewohnerinnen und Bewohner der Großsiedlungen von der ersten Stunde an in dem öffentlichen Raum aktiv wurden, den sie vorfanden. Sie schufen sich in Vereinen wie informellen Gruppen eine eigene Öffentlichkeit. Dadurch entstand faktisch ein funktionierender öffentlicher Raum, der allerdings oft andere Formen annahm, als es in der Planung vorgesehen worden war.Betrachtet man also den öffentlichen Raum als Merkmal der europäischen Stadt, so gehören Großsiedlungen in jeder Hinsicht dazu. Denn nicht nur in der Planung der Siedlungen spielte öffentlicher Raum unbestritten eine zentrale Rolle, auch in den gebauten Siedlungen hat sich eine zivilgesellschaftliche Öffentlichkeit ihre Räume geschaffen. Sebastian Haumann ist Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte der TU Darmstadt. 2010 promovierte er mit einer Arbeit über Partizipation in der Stadtplanung der 1960er und 1970er Jahre. Zurzeit setzt er unter anderem mit der Geschichte des Lebens in Großsiedlungen auseinander.
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Rut Blees Luxemburg / 25.6.2013 / 10:29

Fotografin, London

Ja ...

In London, wo ich seit den 1990er Jahren lebe, wurden Großwohnsiedlungen (housing estates) historisch als sozialer Wohnungsbau konzipiert und errichtet. Dies trug sicherlich zu der Stigmatisierung dieser Bauwerke bei: eine Mischung aus Klassenressentiments und sozialen Ängsten, manifestiert in der Ablehnung dieser konkreten Wohnsiedlungen.In meinen großformatigen Fotografien versuche ich diese Bauwerke visuell zu re-konfigurieren, indem ich mich auf die ästhetischen, formalen Aspekte dieser Architektur konzentriere. Durch lange Belichtungszeiten erhalten die Strukturen eine Leuchtkraft, die eine Dringlichkeit und eine Sehnsucht vermittelt. Hier flackert das Versprechens einer Moderne auf, welche die Ideale von Gleichheit und sozialen Verantwortung vertrat.In Großwohnsiedlungen ist die potenzielle Utopie eines gemeinsamen geteilten Raumes realisiert: die kompakte und dichte urbane Realität einer heterogenen Gemeinschaft, welche Nähe erlebt und daher eine respektvolle Distanz ausüben kann – eine spezifisch urbane Erfahrung. Rut Blees Luxemburgs großformatige Fotografien thematisieren den urbanen, öffentlichen Raum. Sie produziert eindringliche Kompositionen, welche die konventionellen Wahrnehmungen städtischer Räume hinterfragen. Rut Blees Luxemburg lebt und arbeitet in London. Sie lehrt Photographie, mit dem Schwerpunkt "Urban Aesthetics am Royal College of Art in London". Rut Blees Luxemburg, Towering Inferno Rut Blees Luxemburg, Vertiginious Exhilaration Rut Blees Luxemburg, 'Attemtpt of Seduction"
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Gerd Kuhn / 25.6.2013 / 10:11

Historiker und Soziologe, Universität Stuttgart

Ja ...

Großsiedlungen gehören zur europäischen Stadt. Sie sind Teil unseres (bau-)kulturellen Erbes – mit all ihrer Ambivalenz. Großsiedlungen waren Teil des gesellschaftlichen Versprechens auf allgemeinen Wohlstand und modernes Leben. Es sollten mit dem Massenwohnungsbau auch endgültig die (Wohnungs-)Nöte der Nachkriegszeit überwunden werden. Es zeigte sich aber rasch, dass die dem Großsiedlungsbau zugrundeliegende Stadtvision im Westen und Osten auf einer unwirtlichen Urbanität und Funktionstrennung beruhte. Bereits wenige Jahre nach Fertigstellung der Großsiedlungen waren diese entzaubert. Besonders die Exzesse des ökonomisch geleiteten Bauwirtschaftsfunktionalismus (siehe Neue Heimat) und einseitige (Fehl-)Belegungen diskreditierten diese Siedlungen. Zurück blieben normierte Wohnungen mit Standardgrundrissen und die Menschen.Nach Jahrzehnten der Abnutzung werden die Großsiedlungen nun massiv kulturell entwertet. Man wirf ihnen vor, nicht mehr heutigen Energiestandards zu genügen und keinen Raum zur Entfaltung heutiger individueller Wohnstile zu bieten. Kurzum – man unterstellt ihnen, sie seien nicht mehr zeitgemäß.Bei dem (bau-)kulturellen Entwertungsdiskurs werden aber zwei wichtige Aspekte ausgeblendet: der Mangel an bezahlbaren Wohnungen und die Bewohner.Durch das dramatische Abschmelzen des belegungs- und mietpreisgebundenen Bestandes an Sozialwohnungen (von 4 Mio. in den 1980er Jahren auf 1,66 Mio. 2010) mangelt es in den (wachsenden) Groß- und Universitätsstädten deutlich an preisgünstigem Wohnraum. Die Restbestände konzentrieren sich (besonders in Westdeutschland) überwiegend in den (Groß-)Siedlungen der 1950er- bis 1970er Jahre. Statt weiter Abriss- und Neubau-Phantasien nachzugehen, sollten zunächst die Bewohner der Großsiedlungen nach ihren Bedürfnissen gefragt und es sollten konkrete Maßnahmen zur Rehabilitation der Großsiedlungen eingeleitet werden. Druot, Locaton & Vassal haben in Frankreich hierfür bereits anschauliche Beispiele entwickelt.  Dr. phil. Gerd Kuhn  studierte Geschichtswissenschaften und Gesellschaftswissenschaften (Soziologie/Politik) in Frankfurt am Main; arbeitete als Mitarbeiter an TU-Berlin 1989 bis 1995, promovierte 1995 zur Wohnkultur und kommunalen Wohnungspolitik. Er ist seit 1997 Akademischer Mitarbeiter am Fachgebiet Architektur- und Wohnsoziologie, Institut Wohnen und Entwerfen, Fakultät Architektur und Städtebau, Universität Stuttgart. Er ist u.a. Vorsitzender des Beirats des Bundesverbandes für Baugemeinschaften, Mitglied im Aufsichtsrat des Bau- und Heimstätten-Vereins Stuttgart; Mitherausgeber der Informationen zur modernen Stadtgeschichte (IMS), Mitglied im Kuratorium Stiftung Selbsthilfe. Zahlreiche Forschungsarbeiten, Gutachten und Publikationen in den Bereichen Urbanistik, Wohnkultur und Wohnungspolitik, Geschichte des Wohnens, Architektur- und Wohnsoziologie.
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Maren Harnack und Christian Holl / 14.7.2013 / 14:12

Resümee der Gastredakteure dieser Debatte

Jein ...

Unsere Gastredaktion bei bkult geht zu Ende. Das Bild der unbegründeten Abstimmung (59 Prozent pro) ist dabei nicht ganz so deutlich, wie das der begründeten Statements. Dass mit einer einfachen Ja/Nein-Abstimmung noch wenig darüber ausgesagt ist, wie das Potenzial der Großwohnsiedlungen in der Stadt eingeschätzt wird, verdeutlichen die einzelnen Ausführungen: Sie zeigen, dass mit der Frage nach der europäischen Stadt etwas zur Sprache gebracht wurde, worüber nur scheinbar Konsens besteht. Denn es haben sich letztlich alle Beteiligten für eine sorgfältige, vorurteilsfreie Weiterentwicklung der Großsiedlungen ausgesprochen, auch solche, die noch vor kurzer Zeit einzelne Siedlungen abreißen wollten. Bemerkenswert finden wir, dass auch diejenigen, die gut begründet mit „Nein“ gestimmt haben, dies nicht taten, weil sie Großsiedlungen grundsätzlich ablehnen, sondern weil sie der Meinung sind, dass das oft genug rein formal verstandene Leitbild der europäischen Stadt für den Umgang mit Großsiedlungen nicht hilfreich ist. Die Strategien, mit denen Großsiedlungen weiterentwickelt werden, sollten sich nach Ansicht der Nein-Stimmen nicht an einem Stadtbild orientieren, das mit Großsiedlungen wenig gemein hat.

Für uns zeigt sich an diesem Ergebnis vor allem eines: Das Leitbild der Europäischen Stadt, das in den vergangenen Jahren die Stadtentwicklung beherrscht hat, ist nur bedingt  geeignet, die aktuellen Probleme in unseren Städte zu lösen, jedenfalls solange es ausschließlich räumlich-formal verstanden wird. In einem so verstandenen Leitbild wird die  europäische Stadt inhaltlich so stark reduziert, dass sie ihr Orientierungspotenzial als zivilisatorisches und kulturelles Projekt jenseits des Formalen zu verlieren droht. In der Diskussion wurde darauf verwiesen, dass mit dieser Reduktion die Gefahr einher geht, zu glauben, mit der Form bereits das eingelöst zu haben, was mehr als dieser bedarf – das nährt offensichtlich auch die ebenfalls geäußerte Befürchtung, dass sich unter dem Deckmantel der europäischen Stadt die Fehler der Vergangenheit wiederholen könnten.

Dennoch bleibt die Frage nach der Form, in der kulturelle und soziale Werte die Möglichkeiten bekommen, sich zu entfalten. Wir haben uns deswegen sehr bemüht, dezidierte Kritiker des modernen Städtebaus für Statements zu gewinnen, aber sie konnten oder wollten sich – sehr zu unserem Bedauern – nicht an der Debatte beteiligen.

So bleibt als Fazit, dass die unterschiedlichen Erklärungen der Diskutanten dazu, was sie unter der europäischen Stadt verstehen, auch ein Hinweis darauf sind, dass dieses Leitbild zu missverständlich ist, um als Konsensrahmen für die gesamte Stadt Orientierung zu bieten. Das könnte bedeuten, dass man in Diskussionen über die Zukunft der Städte mit einem Leitbild operieren sollte, das Großsiedlungen selbstverständlich mit einschließt. Dies ist eine weitere Diskussion wert: Kann es gelingen, für zukünftiges Handeln in der Stadt ein Leitbild zu finden, das nicht bestehende Teile von ihr ausschließt?

 

Maren Harnack und Christian Holl

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