"Haben die Architekten den Innenraum der Industrie überlassen?"
Ja! 86%
Nein! 14%
Es gab einmal eine Zeit, da planten Architekten Häuser vom Scheitel bis zur Sohle. Nicht nur die leere Hülle, sondern auch den Inhalt. Und häufig war ihnen das Innen mindestens so wichtig wie das Außen. Ob wir die Häuser von Henry van de Velde oder Adolf Loos heute noch genauso bewundern würden, wenn sie sich nur auf die Gestaltung von Struktur und Fassade konzentriert, die Innenräume aber „neutral“ und „leer“ gelassen hätten?
Doch genau das ist doch heute die Mission von Architekten, vor allem im Wohnungsbau. Schleichend aber effektiv hat sich der Konsens durchgesetzt, dass Architektur irgendwo kurz hinter der Fassade aufhört. Für alles, was dahinter kommt, sind andere Experten zuständig. Das waren zunächst die Innenarchitekten, deren Legitimität Architekten bis heute gern mit dem Hinweis bestreiten, es gäbe ja auch keine Außenarchitekten (während dessen sie sich ironischer Weise immer mehr in eben solche verwandeln). Doch ziehen Innenarchitekten längst dasselbe Mistrauen auf sich, das Bauherren gegenüber Gestaltern reflexhaft entwickeln, sobald es um die Bestellung ihres Innersten geht. Das Heim ist heute der Ort, an dem das Subjekt seine Identität produziert – und dabei lässt es sich halt ungern durch suspekte Gestalter ästhetisch bevormunden.
Eher vertraut man auf die integrierten Lebensstilangebote der vereinigten Möbel- und Einrichtungsindustrie von Ikea, Habitat & Co, die das zeitgenössische Wohnen viel stärker konditionieren als Architekten das je vermocht hätten. Kein Wunder, dass diese den Innenraum nur mehr noch als Phantomschmerz empfinden können – ein Körperteil, der weh tut, obwohl man ihn längst verloren hat. Daher die Architektenparanoia, das Gebäude schnell noch fotografieren zu lassen, bevor „die Nutzer“ einziehen, was die bizarre Leere an Menschen und Dingen in der professionellen Repräsentation von Architektur nach sich zieht. Aber menschenleer sind nicht nur die Bilder. Während die stilwerkenden Verkaufsberater des omnipräsenten Design-oder-Nichtseins ihren Kunden in der Regel auch jene Wünsche von den Augen ablesen können, die sie gar nicht hatten, wissen Architekten immer weniger, wie sie mit Nutzern kommunizieren sollen. Vielleicht suchen diese ja gar nicht den virtuosen Überentwerfer. Vielleicht wären sie froh, bei der Organisation ihres räumlichen Umfelds einmal von jemandem beraten zu werden, der keine Produkte verkaufen will, sondern ihnen einfach vermöge seiner räumlichen Kultur dabei hilft, ihren Alltag räumlich so zu strukturieren, dass sich ihre persönlichen Lebensträume darin besser entfalten können.
Die modernen Architekten hatten keine Scheu, den Menschen zu zeigen, wie man schöner wohnen kann. Heute macht das eine Medienmaschinerie, die ganz unverhohlen die Interessen der Möbelindustrie bedient, weil sie von dieser auch dafür bezahlt wird. Architekt haben vor diesem industriell-ästhetischen Komplex entweder längst kapituliert oder sich ihm munter als Markendesigner für Teekannen oder Komfortklos an den Hals geworfen. Insofern ist es zweischneidig, wenn Architekten die Annexion der Architektur durch Baumärkte, Einrichtungshäuser und Luxusmöbelmarken beklagen. Hat diese Ausstatterallianz den Architekten wirklich das Wohnen entrissen? Oder haben die Architekten den Innenraum der Industrie überlassen?
Nein ...
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Bisher galt meiner Erfahrung nach für den Innenraum: Je Qualitätsbewusster der Bauherr, desto höher die Chance auf professionell durchgestaltete Innenwelten. Ob etwas Zukunftsweisendes oder Fortschrittliches dabei herauskam, hing sehr davon ab wer den Architekten anfragte, welche Unabhängigkeit man ihm zugestand und wieviel Gestaltungsspielraum dieser sich nahm. Solange auf Seiten junger Architekten das Gefühl vorherrscht, dass man für einen Auftrag dankbar sein muss, werden sich nur wenige Planer einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Bauherren über Inhalte und Kosten stellen. Eine Bauausstellung beispielsweise lässt andere Freiheiten zu als viele private oder kommerzielle Auftraggeber.
Vielleicht scheint es als seien die Architekten aus dem Innenraumsegment verschwunden. Diese momentan noch vorherrschende Unsichtbarkeit des Berufsstandes bedeutet allerdings keinen endgültigen Abzug vom Spielfeld. Solange Fläche vergleichsweise bezahlbar war, investierten Bauherren in maximale Größe. Je mehr die Quadratmeterpreise in Berlin, München und Hamburg steigen, desto rascher werden dort Architekten auch für den Innenausbau herangezogen - zumindest in den Großstädten. Man kann dies in Metropolen wie Paris, London, Barcelona beobachten. Dabei brauchen die Auftraggeber nicht nur effizientere Grundrisse als bislang, sondern gleichzeitig effektive und erlebnisreiche Innenräume. Je individueller oder auch je "schwieriger" der Raum, desto gefragter ist eine Maßanfertigung. Der Bauherr wiederum muss sich zu einem bestimmten Ort bekennen. Ob dies ein Vorbild und eine Chance für alle anderen Regionen ist, wird sich zeigen.
Ich sehe zukünftig nicht den Neubau als Schwerpunkt für anspruchsvolle Innenraumgestaltung, sondern Ausbauten, Sanierungen und Umnutzungen im Bestand. Wo bereits vorhandene Gestaltung nicht genügt, wo Vorstellungskraft und Fähigkeiten der Mitstreiter enden, ist der Architekt in seinem Element und kann den Ideen durch sein Wissen Gestalt geben.
Friedrich May, geb. 1970, hat an der Universität der Künste in Berlin Architektur studiert und danach zunächst bei Pichler Ingenieure in Berlin gearbeitet. Er war Dozent und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der TU Dresden und ist heute als Architekt in Berlin tätig.
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