„Brauchen wir mehr Abriss?“
Ja! 38%
Nein! 62%

Frankfurt a.M.: Historisches Museum von 1972 macht Platz für seinen Neubau von LRO, Foto: BKULT
Nicht neu zu bauen und statt dessen lieber Bestehendes weiter zu nutzen, das steht auch im Hinblick auf Nachhaltigkeit derzeit hoch im Kurs der Architekturdebatte, spätestens seit der Eröffnung des deutschen Pavillons auf der diesjährigen Architekturbiennale, der auf das Potential des architektonische Bestands verweist.
Welche gesellschaftliche Brisanz diese Bestandsdebatte angenommen hat, zeigt sich daran, dass sie mittlerweile schon im öffentlich-rechtlichen Fernsehen geführt wird. Ausgehend von Heiner Geißlers wohlbegründeter Forderung, die Berliner Siegessäule abzureißen, lief über den Sommer im ZDF-Kulturmagazin Aspekte bis vorherige Woche eine Serie, in der jedermann und jede Frau nach eigenem Gusto mit Wort und Bild zu einem „Schwarzbuch“ der Architektur „von unten“ beitragen durfte. Im Hessischen Rundfunk hatte vorher bereits der Architekt Christoph Mäckler in 50 Folgen unter dem Titel „Hauptsache Kultur“ erklärt, wie man mit den schlimmsten Bausünden umgehen sollte – Abriss inklusive. Nach seinen Plänen wird gerade das „Zoofenster“ in Berlin fertig gestellt, dem das denkmalgeschützte „Schimmelpfenghaus“ zu großen Teilen weichen musste.
Es ist eine Debatte heiliger Kühe, tief sitzender Tabus und gebrannter Kinder. Seit Le Corbusier in seinem „Plan Voisin“ 1925 forderte, zentrale Bereiche von Paris großflächig abzureißen, scheuen die Architekten das Thema Abriss wie der Teufel das Weihwasser. Schuldbewusst rezitieren sie das Mantra der gescheiterten Moderne und verdrängen geflissentlich, was alle wissen, aber keiner sagen will: Dass man die Stadt nicht weiterbauen kann, ohne sich mitunter auch von Bestehendem zu trennen – differenziert aber beherzt. Andernfalls gäbe es gar keine Geschichte, die man schützen könnte. Vor Le Corbusier gab es Hausmann, der nicht minder mitleidlos Jahrhunderte alte Stadtquartiere plattmachte, um Platz zu machen für seine neuen großen Boulevards, die wir heute so schätzen. Und auch ein feudaler Kulturmensch wie August der Starke hatte keine Probleme damit, wichtige Teile des Renaissance-Dresdens abzureißen, um seine Elbflorenz-Prachtbauten zu errichten. Und die Liste ließe sich problemlos fortsetzen.
1991 griff Rem Koolhaas Le Corbusiers Konzept einer „partiellen Tabula Rasa“ in seinem Wettbewerbsprojekt für die „Mission Grande Axe“ in Gestalt eines differenzierten Abrissplanes für La Défense wieder auf, und sorgte damit für hörbares Ausatmen bei seinen Kollegen. Anlässlich der 12. Architekturbiennale machte er mit seinem Ausstellungsbeitrag CRONOCAOS 2010 darauf aufmerksam, dass es im globalen Maßstab keine Strategie für den Denkmalschutz gibt und der Erhaltungseifer der Gegenwart bereits große Teile der Erdoberfläche in einen ewigen Winterschlaf der Nachgeschichte versetzt hat. Eine zentrale Frage unserer Gegenwart lautet daher: Enthält die Vergangenheit wirklich bereits die gesamte Erbinformation der Zukunft, die es nur immer wieder neu zu entfalten gilt, oder gibt es vielleicht wirklich eine Art von Neuheit, die erst dann entstehen kann, wenn Altes auch untergehen darf? Brauchen wir also weniger Erhaltung und mehr Abriss?
Ja ...
Nein ...
Ja ...
Jein ...
Ja ...
Jein ...
Ja ...
... Abriss für eine Stadt durchaus belebend sein kann. Aber habt ein Herz für die guten Bausünden und nehmt stattdessen die schlechten! Als Faustregel gilt: je mehr Unverständnis und Wut eine Bausünde in der öffentlichen Betrachtung auslöst, je höher ihr Störfaktor im öffentlichen Raum erscheint, desto wahrscheinlicher ist es, dass es sich um eine gute Bausünde handelt, die schon wieder eine Bereicherung für ihre Stadt sein kann. Eine gute, originelle Bausünde zeichnet sich dadurch aus, dass sie sich gut erkennbar aus dem Meer der schlechten Bausünden abhebt. Sie hat eine gewisse Bildqualität, die sich meist darin zeigt, dass der Volksmund ihr Schmäh- oder Spitznamen gegeben hat, und dadurch einen hohen Wiedererkennungswert. Sie sagt mehr über die Stadt, in der sie steht, aus, als es auf den ersten Blick den Anschein haben mag, denn entgegen der landläufigen Meinung ist die gute Bausünde nicht austauschbar, auch wenn sie vordergründig keinerlei Bezug zum umgebenden Kontext ausweist. Jede Stadt hat ihre ureigene Bausündenpolitik und einen ureigene Nährboden auf dem Bausünden gedeihen oder eben nicht!
Schlechte Bausünden hingegen brauchen keinen spezifischen Nährboden – sie gedeihen überall und sind in ähnlicher Form hundert- oder tausendfach in allen Städten zu finden. Sie sind austauschbar, rauben den Städten auf weiter Strecke jegliche Unterscheidungskriterien und sind dabei von so penetranter Langeweile und Belanglosigkeit, dass sie ein fast unbemerktes Schattendasein fristen. Leider sind es meistens die guten Bausünden, die der Abrissbirne zum Opfer fallen, während sich die schlechten Bausünden fast unbemerkt weiter ausbreiten können!
Turit Fröbe, geb. 1971, studierte Kunstgeschichte und Klassische Archäologie in Marburg sowie Europäische Urbanistik in Weimar. Seit 2005 arbeitet sie als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Studiengang Architektur der Universität der Künste Berlin.
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