"Sollen wir den ländlichen Raum aufgeben?"
Ja! 38%
Nein! 62%
Foto:Uta Rauser
Zu Weihnachten werden wieder viele Großstädter für wenige Tage in ihre Heimatdörfer und Kleinstädte zurückkehren. Viele von diesen Stadtflüchtigen wird die Sehnsucht nach dem Leben auf dem Land befallen. Im Einklang mit der Natur leben, Entschleunigung, Autarkie und Gemeinschaft sind hier die Stichworte, die an Aussteigermotive früherer Generationen erinnern. Und falls einem doch einmal die Decke auf den Kopf fallen sollte, gibt es heute noch das Internet zum Aufrechterhalten von sozialen Kontakte und ortsunabhängiger Arbeit.
Spätestens beim Blick auf die Zahlen geht diese Sehnsuchtsoase jäh unter, denn das Land entleert sich mit immer schwerwiegenderen ökonomischen Konsequenzen: Mehr als die Hälfte der ländlichen Gemeinden in Ostdeutschland haben in den letzten Jahren über fünf Prozent ihrer Bevölkerung eingebüßt, so eine Studie des Berlin-Insituts. Manche Dörfer sind gar in ihrem Bestand gefährdet. Im Gegenzug sind einige Metropolregionen starkem Wachstumsdruck ausgesetzt.
Als Folge davon muss für immer weniger und immer ältere Menschen in ländlichen Regionen mit immer geringeren Einnahmen die kommunale Infrastruktur am laufen gehalten werden. Das betrifft den öffentlichen Nahverkehr, Bildungseinrichtungen, medizinische Versorgung, Kanalisation etc. Und selbst das Internet ist auf dem Land langsamer, weil es an nötigen Datenkabeln fehlt. Und auch die Verteuerung der Benzinpreise trägt dazu bei, dass das Leben auf dem Land pro Kopf immer teurer wird.
Die Erosion der ländlichen Infrastruktur führt am Ende auch zu einer massiven Abwertung privater Immobilien. Dadurch implodiert die einst sichere Altersvorsorge der Großstadtyuppies – denn das Haus, das sie einmal von ihren Eltnern erben werden, wird sich womöglich nicht mehr verkaufen oder vermieten lassen. Dies wurde kürzlich im Spiegel am Beispiel am Beispiel von Cuxhaven-Altenwalde ausgeführt. In vielen Einfamilienhausgebiete der 60er Jahre werden leerstehende Häuser zur Normalität werden.
Dieses strukturelle Zerbröckeln stellt die bisher geltende politische Doktrin, Stadt und Land gleich zu behandeln, grundsätzlich in Frage. Bereits heute stellen einige Bundesländer ihre Förderpolitik vom Gießkannenprinzip auf das Leuchtturmprinzip um. Nach Abschaffung der Eigenheimzulage scheint es nur noch eine Frage der Zeit, bis auch die Pendlerpauschale fällt. Spätestens dann kann sich niemand mehr das Landleben billig lügen. Zwar fließen zur Zeit immer noch Fördermittel in Richtung Land, jedoch drängt sich die Frage auf, ob diese Mittel nicht dringend in Ballungszentren investiert werden müssten. Denn auch dort ist die Infrastruktur unterversorgt (Kitaplätzemangel, maroder öffentlicher Nahverkehr, schlechtes Schulsystem, aus den Nähten platzende Universitäten, Mangel an bezahlbarem Wohnraum etc.) – nur sind dort ungleich viel mehr Menschen davon betroffen.
Wie lange wollen wir uns noch den fragwürdigen Luxus leisten, den ländlichen Raum mit immer aufwendigeren Mitteln am Leben zu halten? Müssten wir nicht viel eher die nachaltige, verdichtete Lebensform Stadt fördern? Mit anderen Worten: Sollen wir den ländlichen Raum aufgeben?
Nein ...
Nein ...
Jein ...
Jein ...
Jein ...
Ja ...
Ja ...
Nein ...
Nein ...
Jein ...
Aufgeben: Jein.
Die Frage zu stellen, ob "der ländliche Raum" aufgegeben werden sollte, trifft nicht den Kern der Problematik und ist klar mit "Nein" zu beantworten. Sehr wohl muss sich die Gesellschaft aber mit dem Gedanken anfreunden, einzelne, unattraktive Orte aufzugeben. Ein "kontrollierter Rückbau" wird wohl unausweichlich werden.
Es gibt in ländlichen Räumen eine Vielzahl von Kommunen, die trotz demographischem Wandel und Strukturveränderungen ausgesprochen gute Zukunftsperspektiven haben. Sei es eine gute Verkehrsanbindung, fruchtbare Böden oder erneuerbare Energien: Es wäre schlicht Zynismus, diesen prosperierenden Gemeinden ihre Daseinsberechtigung abzusprechen.
Anders sieht es für (Teile von) Kommunen aus, die Abseits von Hauptverkehrsadern liegen, die keine Voraussetzungen für rentable Landwirtschaft oder die Erzeugung nachhaltiger Enerie haben. Im schlimmsten Fall ist die Landschaft dann noch unattraktiv und somit auch für Tourismusentwicklung nicht geeignet. Oftmals sind es doch die Dörfer in genau diesen Gebieten, die auch von der Qualität der Wohnbebauung hinter anderen Dörfern in ländlichen Räumen zurückstehen. Ihren Bevölkerungsschub haben diese Dörfer in der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg erfahren, es wurde schnell und qualitativ minderwertig gebaut. Die nachfolgende Generation hat, wenn überhaupt, Jahrzehnte später an den Ortsrandlagen gebaut, nicht selten und bis in die 90er Jahre hinein mit ebenso wenig "baukulturellem" Anspruch.
In der Ansprache dieser Gebiete muss die Frage erlaubt sein (und gestellt werden), ob es tatsächlich Sinn macht, in jedes dieser Dörfer Energie und Geld zu investieren oder ob zukunftsgerichtetes Handeln nicht darauf gerichtet sein sollte, die Siedlungsentwicklung auf ausgewählte Teile solch einer Kommune zu konzentrieren. Muss denn in jedes dieser Dörfer noch für "teuer Geld" ein Breitbandanschluss gelegt werden, eine Biogasanlage gebaut oder ein Nahwärmenetz finanziert werden, wenn dort schon heute ganze Areale leer stehen, verfallen, nicht zu verkaufen sind? Was könnte mit diesem (nicht nur finanziellen) Aufwand in den zukunftsfähigen Orten der Kommune nicht alles bewirkt werden! Durch eine Konzentration auf ausgewählte Teile einer Kommune könnten dort Anreize geschaffen werden, die einen Zuzug tatächlich wieder attraktiv machen. Mit einem konzentrierten Mitteleinsatz ließe sich Daseinsvorsorge in diesen Orten wieder finanzieren, könnten Kindergärten, Schulen, Gemeinschaftshäuser, Pflegeeinrichtungen etc. nicht nur am Leben gehalten, sondern sogar attraktiver gestaltet werden. Am Ende vielleicht gar so attraktiv, dass es für den verbliebenen Bewohnern der aufzugebenden Dörfer die Entscheidung leichter machen könnte, ihr Dorf irgendwann aufzugeben. Schließlich hat man durch den Verzicht letztlich gemeinsam dazu beigetragen, die Gemeinde, wenn auch in verminderter Größe, am Leben zu halten.
Eventuell ergibt sich mit der aktuellen Umstellung der Dorferneuerung auf eine gesamtkommunale Förderkulisse eine Chance, genau diese Richtung zu verfolgen.
Eine frühzeitige Debatte darüber, welche Dörfer auch in 50 Jahren noch bewohnt sein sollen und daher schon jetzt Vorrang erhalten sollten, ist allerdings in der Gesellschaft nur schwerlich in Gang zu setzen und es dürfte noch weitaus problematischer werden, diese dann auch nüchtern und sachbezogen zu führen. Ich kann mir kaum einen Politiker vorstellen, der es wagen würde, seine Wiederwahl mit einem solch komplexen, angstbesetzten und heiklen Thema zu riskieren. Hier wären also die Bürger, die Gesellschaft selbst gefordert, im eigenen Interesse Strategien für die Zukunft von ihren Volksvertretern und Entscheidern zu fordern. Solange aber Sparkassen, Baufinanzierer, Medien und Politik die Mär vom Einfamilienhaus-im-Neubaugebiet-Ideal predigen, wird ein solcher Bewusstseinswandel noch lange auf sich warten lassen.
Hoffentlich nicht zu lange.
Es grüßt,
Patrick Ludes aus Marburg
(aktuell im Rahmen der Diplomarbeit mit Leerständen und Siedlungsentwicklung befasst)
Als Nachtrag sei noch angemerkt, dass die Begrifflichkeit "ländlicher Raum" alleine schon problematisch ist. Es gibt keine anerkannte Definition für _den_ ländlichen Raum, wenn überhaupt, sollte der Plural "ländliche Räume" Verwendung finden, weil dadurch die Vielfalt der Funktionen und der naturräumlichen Gegebenheiten Anerkennung findet.
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